Politiker in den sozialen Medien: „Wir haben gar keine Wahl, wir müssen da ran!“
Der politische Betrieb in Niedersachsen zählt in seiner Summe nicht unbedingt zu den Vorreitern, wenn es um die Kommunikation in den digitalen Räumen geht. Twitter konnte in Hannover nie die Relevanz entwickeln, die es im politischen Berlin hatte – oder als X heute vielleicht noch hat. Und doch gewinnt die Selbstvermarktung der Politik in den sozialen Netzwerken auch für die niedersächsische Landespolitik immer mehr an Bedeutung. Auffällig ist zum Beispiel, dass Pressestellen von Ministerien und Rathäusern neben Experten für die klassische Medienarbeit zunehmend auch darauf achten, Fachkräfte für die eigene sozial-mediale Inszenierung ihrer Chefs zu akquirieren. Extra angeheuerte Fotografen schießen qualitativ hochwertige Fotos, Social-Media-Redakteure basteln bei Außenterminen noch direkt vor Ort Reels und verbreiten sie auf den verschiedenen Plattformen. Was macht das mit den Politikern, die zunehmend ihre Inhalte direkt kommunizieren?
Einer, der ein Naturtalent ist, wenn es darum geht, politische Botschaften zu inszenieren, ist Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD). Man findet ihn beispielsweise bei Facebook, Twitter, Instagram – und sogar bei TikTok. Allerdings hat er auf der Kurzvideo-Plattform noch keinen einzigen Beitrag veröffentlicht, wie Moderator Helge Fuhst (Tagesthemen) bemerkt hat. „Ich habe das eingerichtet, um zu gucken, was die anderen machen“, bekannte Lies bei der Podiumsdiskussion beim Jubiläumsfest des Politikjournals Rundblick. „Ich bin neugieriger Beobachter aber noch nicht in der Lage, inhaltlich etwas beizusteuern.“ Zwei Nachteile habe dieses versuchsweise angelegte Profil aber schon, sagt der Wirtschafts- und Digitalisierungsminister. Zum einen fühle er sich unter Druck gesetzt, selbst etwas zu veröffentlichen. Zum anderen sehe er, was dort sonst so veröffentlicht wird und was der Algorithmus ihm anzeigt. Und da stellte er fest: „Ich bin schon erschrocken, was ich da so sehe.“
Während Lies also noch zögert, auf TikTok das Tanzbein zu schwingen, feiert Heidi Reichinnek dort schon große Erfolge. 6,7 Millionen Likes hat die niedersächsische Linken-Politikerin dort bereits eingefangen und erreicht mit ihren Videos die jungen Menschen so gut, wie kaum ein anderer Politiker in Deutschland. Die wahren Helden des politischen TikTok-Universums findet man allerdings am anderen Ende des politischen Spektrums. Der AfD gelingt es unheimlich gut, mit den kurzen Videobotschaften auf dieser Plattform ein gutes Bild abzugeben und die Massen zu bewegen. Das zahlte sich aus: Bei der Europawahl konnte die AfD viele Jungwähler von sich überzeugen. Reichinnek bewertete dies beim Rundblick-Jubiläumsfest allerdings etwas anders und versuchte es mit einer „Ehrenrettung“ der Jugend, wie sie es nannte: „Die AfD war bei der Europawahl leider in allen Altersgruppen gleichstark, außer bei denen Über-70-Jährigen, was vermutlich mit deren Erfahrungen zusammenhängt“, konterte die Vorsitzende der Linken-Gruppe im Deutschen Bundestag. Es sei nicht so, dass junge Menschen in einem massiven Rahmen AfD gewählt hätten. Allerdings habe sich das Narrativ festgesetzt, die jungen Menschen seien auf TikTok leicht eingefangen worden – weshalb jetzt auch die anderen Parteien die chinesische Kurzvideo-App für sich entdeckt hätten. Der Erfolg der AfD auf dieser Plattform habe in ihren Augen etwas damit zu tun, dass die Partei frühzeitig erkannt habe, dass es dort nicht so sehr auf die Inhalte ankomme, sondern darauf, wie man sie darstellt. „Die müssen nicht mit Fakten arbeiten, sondern können da komplett aufdrehen – und das ist ein Problem“, sagte die Linken-Politikerin aus Osnabrück. Deshalb müssten die anderen Parteien nun auch dort hin und Aufmerksamkeit generieren – „aber mit der Wahrheit. Das ist komplizierter aber machbar“, meint Reichinnek.
Wieso aber fällt es den Politikern anderer Parteien so schwer, sich auf neuen Medien einzulassen? Theresa Hein ist eine Kommunikationswissenschaftlerin und Medienmanagerin aus Hannover und berät unter anderem die CDU Deutschlands und Parteichef Friedrich Merz bei deren Social-Media-Arbeit. Sie meint, eine Herausforderung für zunächst unbedarfte Politiker sei es, ihre politischen Inhalte plattformgerecht aufzubereiten. Jeder Kanal brauche eine eigene Ansprache und habe einen eigenen Stil – den müsse man kennen, oder brauche jemanden, der ihn kennt. Dafür fehle es in Parteistrukturen häufig am nötigen Budget, denn ein professioneller TikTok-Kanal für einen Politiker benötige einen Vollzeit-Mitarbeiter, der diesen pflegt, sagte Hein. An der Spitze der Partei sei dafür eher Geld vorhanden als in den unteren Ebenen. Heidi Reichinnek teilte zwar die Feststellung, dass es auch eine Ressourcen-Frage ist. Für die Linken-Politikerin ist es aber auch eine Frage der Prioritätensetzung: „Wenn drei Viertel der Menschen, die sich online informieren, sagen, dass sie dafür Kurzvideos nutzen, sagt das auch etwas aus, wenn man diese nicht anbietet.“ Für sie sei das Internet eine Möglichkeit, um auf Augenhöhe mit den Menschen zu kommunizieren – auch bewusst an den klassischen Medien vorbei, deren Gatekeeper-Funktion dadurch stark eingeschränkt wird. Sie glaubt allerdings: Vielen Politikern falle das immer noch sehr schwer, weil sie sich und die Politik insgesamt zu ernst nehmen. „Politiker müssen Menschen sein, zu denen die Menschen aufsehen können, ohne dass die Politiker dabei von oben auf sie herabschauen.“
Als spannendes Phänomen bezeichnete Niklas Kleinwächter, Podiumsteilnehmer und Autor dieser Zeilen, die Entwicklung, dass immer mehr Politiker den Weg der eigenen Online-Kommunikation wählten. Journalisten müssten sich damit beschäftigen, wie sie die Form der Kommunikation selbst rezipierten. Wenn ein Minister Lies noch vor der Pressemitteilung ein Video bei Instagram veröffentlicht, sei das eine relevante Quelle – und wenn die Abgeordnete Reichinnek Ausschnitte ihrer Bundestagsreden verbreitet, ziehe das eine andere Aufmerksamkeit auf sich. Was den Journalisten für seinen Berufsstand allerdings zuversichtlich stimmt, ist der Umstand, dass sich Debatten auf diese Weise kaum in den digitalen Raum verlagerten. Abgeordnete posten Videos ihrer Reden, nicht aber die Gegenrede – beides zusammen findet man hingegen in den klassischen Medien viel eher. „Wir können die Debatten darstellen, nicht nur die eine Rede. Außerdem holen wir Gesprächspartner an den Tisch und bekommen durch Nachfragen Aussagen, die über die Plenarrede oder Öffentlichkeitsarbeit hinausgehen können.“
„Angesichts dessen, was man mit solchen Accounts erreichen kann, halte ich den Hass aus.“
Politische Kommunikation im Internet ist nicht zuletzt also auch eine Frage des Stils. Doch der Umgangston im Netz ist nicht immer nett. Wie geht man denn mit dem vielen Hass um, der einem dort entgegenschlägt? „Hasskommentare kann man sehr gut löschen“, sagte Heidi Reichinnek. „Das ist mir auch wichtig, damit sich nicht andere dadurch angegriffen fühlen.“ Insgesamt überwiegt für sie das Gute: „Angesichts dessen, was man mit solchen Accounts erreichen kann, halte ich den Hass aus.“ Doch sie weiß auch, dass sie sich in einer privilegierten Position befindet. Denn zum einen habe sie sich eine Community aufgebaut, in der der Hass nicht überhandnimmt. Zum anderen begegne ihr der Hass höchsten im digitalen Raum und nicht im echten Leben. „Für Kommunalpolitiker auf dem platten Land sieht das ganz anders aus.“ Diese Erfahrung teilt auch Theresa Hein. Die Kommunikationswissenschaftlerin hat festgestellt, dass Politiker besser von Hass-Nachrichten abgeschirmt werden, je höher sie in der Hierarchie stehen. Ein Problem sei die Hetze im Internet eher für junge Menschen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie sich intensiver politisch engagieren und womöglich für Amt und Mandat kandidieren wollen. „Bei denen kann der Hass im Netz ein Kriterium sein, weshalb sie dann sagen, dass sie doch nicht kandidieren möchten“, sagte Hein. Ein Patentrezept gegen den Hasse habe sie nicht, außer den klassischen Anätzen: Anzeige erstatten, melden, löschen. „Aber mehr kann man aktuell leider nicht tun.“
Für Olaf Lies ist es derweil keine Frage des Ob, sondern des Wie. „Wir haben gar keine Wahl, wir müssen da ran, wir dürfen das Medium nicht aufgeben.“ Er betonte, den Mehrwert der sozialen Netzwerke bei aller Skepsis nicht infrage stellen zu wollen. „Es gibt eine Transparenz für die eigene Arbeit, die es vorher nicht gegeben hat“, sagte er und formulierte einen Arbeitsauftrag an seine politischen Mitstreiter: „Wir müssen uns viel tiefer mit der Frage auseinandersetzen, wie wir nicht nur schöne Bilder, sondern auch politische Inhalte so aufbereiten und kommunizieren, dass es uns gelingt über Plattformen, die neu sind, genau eine solche politische Debatte zu führen, wie wir sie früher in den Sälen geführt haben. Denn die Menschen kommen nicht mehr alle in die Säle, deshalb müssen wir zu den Plattformen, wo die Menschen sind. Das ist unsere Aufgabe.“
Sollte Olaf Lies also doch noch seinen TikTok-Account in Betrieb nehmen? So viel hat er schon verraten: Seine Aktentasche werde er dafür jedenfalls nicht vor die Kamera stellen, und tanzen könne er auch nicht. Sollte sich auf seinem Kanal etwas tun, wird das Politikjournal Rundblick sicherlich berichten.
Dieser Artikel erschien am 26.08.2024 in der Ausgabe #145.
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