Petra Bahr warnt: Viele haben mit der Corona-Zeit noch nicht gut abgeschlossen
Hannovers Regionalbischöfin Petra Bahr nimmt in der Bevölkerung noch viel Redebedarf wahr, wenn es um die Aufarbeitung der Corona-Pandemie geht. „Ich erlebe, dass Menschen die Erfahrung der Pandemie in einer Art Kokon in sich abgeschlossen haben“, sagt die Theologin im Podcast-Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Für diese Menschen seien das „zwei schwarze Jahre“ gewesen und viele hätten mit jener Zeit „nicht auf eine gute Weise abgeschlossen“. Bahr vergleicht es mit einem Trauma: Man kapselt ab, was beim Weiterleben stört – aber es ist noch da. Dieses Vorgehen bleibe nicht folgenlos: Was nur „ungenügend verschlossen“ sei, sickere später „wie Eiter aus einer Wunde“. „Wenn das weiter so verschlossen bleibt, dann wird sich das an anderer Stelle Bahn brechen“, warnt die Pastorin im Gespräch über die aufgeheizte Stimmung im Land. Dass es im Zusammenhang mit der Pandemie Radikalisierungstendenzen gegeben hat, führt Bahr längst nicht allein auf die Grundrechtseinschränkungen zurück. „Ich glaube, dass es eine komplizierte Mischung war aus Einsamkeit, Wut, Verzweiflung und dem Gefühl: Der Staat schränkt uns in unseren Handlungsmöglichkeiten ein.“ Deshalb wirbt sie nun dafür, Orte des Austauschs zu schaffen: „Mir geht es darum, dass wir Räume entwickeln, in denen wir darüber sprechen, was uns als Gesellschaft begegnet ist, was uns auch persönlich begegnet ist in unseren Beziehungen, in unserer anderen Art zu arbeiten.“
Wie muss eine Aufarbeitung nun aber aussehen und wo sollte sie ansetzen? Die Theologin sieht dafür mehrere Punkte: Zum einen erhofft sie sich, dass die Politik durch eine veränderte Prioritätensetzung nun endlich jene Gruppen in den Blick nimmt, die sie in der Pandemie vernachlässigt hat. „Es gab kaum Kompensation für Kinder und Jugendliche. Das finde ich nach wie vor wirklich erschütternd, weil wir aus allen Studien seit langem wissen, dass Kinder und Jugendliche lange viel zu wenig im Blick waren, weil man sich eben auf die vulnerable Gruppe der Hochbetagten konzentriert hat. Dabei gäbe es so einfache Möglichkeiten, die man aber nie ergriffen hat“, sagt sie und verweist auf marode Schul-Toiletten oder fehlende digitale Lernstrukturen. Ebenso sollte die Politik auch das öffentliche Gesundheitswesen, auf das es in der Pandemie zuallererst angekommen ist, nun angemessen ausstatten. Zum anderen führt die Regionalbischöfin noch ein konkretes Beispiel aus ihrem eigenen beruflichen Umfeld an, das beschreiben soll, was Aufarbeitung im Zwischenmenschlichen bedeuten soll. So habe sie neulich mit Leitungskräften von Kindergärten zusammengesessen und vier Stunden lang mit ihnen darüber gesprochen, was die Umstände der Pandemie für sie bedeutet haben. „Da war die Resonanz, dass es ihnen schon sehr geholfen hat, so lange darüber zu reden, um anders damit abzuschließen“, erzählt Bahr.
Die Theologin, die als Mitglied des Deutschen Ethikrates damals auch über eine Empfehlung zur allgemeinen Impfpflicht beraten hat, grenzt ihre Forderung nach einer emotionalen Aufarbeitung allerdings deutlich ab von einer Aufarbeitung im politisch-technokratischen Sinne. Ihr gehe es weniger um die Nachbetrachtung konkreter Maßnahmen – auch wenn es dabei auch aus ihrer Sicht einiges aufzuarbeiten gäbe. Zu klären wäre auch: Warum ist die öffentliche Gesundheitsversorgung in Deutschland so, wie sie ist? Warum war man auf eine Katastrophe, die angekündigt war, nicht vorbereitet? Wie funktioniert die Katastrophenstruktur in Deutschland? „Das sind Dinge, die man sich ganz nüchtern angucken kann“, sagt Bahr und meint, der einzige Grund, warum man das tun sollte, sei, um daraus etwas für die Zukunft ableiten zu können. „Was ich unter Aufarbeitung unter gar keinen Umständen verstehe, ist Abrechnung auch in einem persönlichen Sinne.“ Für eine klassische Aufarbeitung sei es nun allerdings fast schon zu spät, da eine gewisse „Historisierung“ eingesetzt habe, meint Bahr. Sie erkennt ein Problem darin, dass man sich mit entsprechendem Abstand nicht mehr in die damalige Situation und auch den „wahnsinnigen Druck“, der damals geherrscht habe, hineinversetzen könne.
Dieser Artikel erschien am 08.08.2024 in der Ausgabe #133.
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