Das Vorgehen der Landespolizei in einer Kirchengemeinde in Bienenbüttel (Kreis Uelzen) sorgt für Irritation in der rot-grünen Regierungskoalition im Landtag. Dass sich die Grünen-Landtagsfraktion am Dienstagnachmittag dazu veranlasst sah, gegen die Polizeiaktion öffentlich Stellung zu beziehen, zeigt deutlich auf, dass es um die rot-grüne Harmonie in dieser Angelegenheit nicht gut bestellt ist. Man sei erschüttert, hieß es zunächst. Am Mittwoch erläuterte Djenabou Diallo-Hartmann, migrationspolitische Sprecherin der Grünen, gegenüber dem Politikjournal Rundblick dann: „Wenn in der Koalition ein solcher Paradigmenwechsel vollzogen wird, sollte der Koalitionspartner zumindest darüber informiert werden.“

Djenabou Diallo-Hartmann, die migrationspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag. | Foto: Sina Gartz

Eigentlich herrsche zwischen dem SPD-geführten Innenministerium und der Grünen-Fraktion ein „konstruktiver Austausch“ zu diesen „herausfordernden Themen“, berichtete die Abgeordnete – in diesem Fall stelle man aber Dissens fest. Am Sonntagabend hatte die Polizei in Zusammenarbeit mit der Landesaufnahmebehörde ein Kirchenasyl in der Sankt-Michaelis-Kirche aufgelöst. Ein russischer Kriegsdienstverweigerer, seine Frau, der erwachsene Sohn und eine 16-jährige Tochter wurden aus der Gemeindehauswohnung herausgeholt. Tobias Heyden, Pastor der Kirchengemeinde, erklärte dazu, man sei geschockt vom Vorgehen der Landesaufnahmebehörde. „Der Zugriff und die Festnahme der Familie an einem Sonntag und die Missachtung des Kirchenasyls per se erschüttert und erschreckt uns zutiefst. Dass die medizinische Situation der jetzt abgeschobenen Frau in der Begründung des Durchsuchungsbeschlusses und bei der Bewertung des Asylverfahrens keinerlei Beachtung gefunden hat, zeigt, wie willkürlich bei der Umsetzung von Abschiebungen vorgegangen wird.“

Die Landespolizei hat dabei zwar lediglich dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Amtshilfe geleistet – doch das hätte Niedersachsen nicht tun sollen, meint die Grünen-Politikerin Diallo-Hartmann. Uneins ist man sich in der Koalition offenbar auch in der Frage, ob es sich bei dem Vorgehen tatsächlich um einen Bruch der bisherigen Praxis handelt. Diese sieht nämlich gemäß einer Übereinkunft von Kirchen und Bamf aus dem Jahr 2015 vor, dass Kirchenasyl nur Betroffenen gewährt werden kann, die nicht nach dem Dublin-Abkommen eigentlich in einem anderen EU-Staat ihren Asylantrag stellen müssten – oder dies sogar bereits getan haben.

Bei dem Fall in Bienenbüttel ist es aber so, dass die russische Familie bereits in Spanien einen Antrag gestellt hatte und nun auch dorthin und nicht etwa nach Russland abgeschoben wurde. Nun ergab es sich aber offenbar, dass die Familie auf der Durchreise von dem Einberufungsbefehl des russischen Staates erfahren habe, daraufhin ins Kirchenasyl gegangen sei und zudem die Frau des Kriegsdienstverweigerers aufgrund der Stresssituation erkrankt sein soll. Diese Umstände, meint zumindest Diallo-Hartmann, machten daraus einen Härtefall, für den gemäß der Absprache Kirchenasyl möglich sein soll. Anders äußerte sich Innenministerin Daniela Behrens (SPD): Der Fall sei „menschlich ausgesprochen tragisch und für die Betroffenen sicher hoch belastend“, „bedauerlicherweise“ habe das Bamf aber keinen Härtefall erkannt. „Die Rückführung ist in einem korrekten rechtsstaatlichen Verfahren abgelaufen.“

Daniela Behrens, Ministerin für Inneres und Sport | Foto: MI

Eine Rolle bei der politischen Bewertung des Vorfalls spielt sicherlich auch, dass der Fall in Bienenbüttel gar nicht der erste Bruch des Kirchenasyls in der jüngeren Geschichte gewesen ist. Erst im April ist nach Rundblick-Informationen ein Syrer aus den Räumen der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Neuenkirchen in Schwanewede (Kreis Osterholz) herausgeholt worden. Der damalige Vorfall soll nur deshalb nicht öffentlich eskaliert sein, weil man eine Abschiebung hatte verhindern können. Für die Debatte spielt aber ebenso eine Rolle, dass der Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) schon 1994 offiziell anerkannt hat, dass es ein „Recht auf Kirchenasyl“ als eigenes Rechtsinstitut nicht gibt und die Kirchen ein solches Recht für sich auch nicht in Anspruch nehmen.

Lange hielt der Frieden, auch weil der Druck geringer war. Doch erst im vergangenen Jahr hat sich ein ökumenisches Netzwerk „Asyl in der Kirche“ in den Ländern Niedersachsen und Bremen neu gegründet, auch die Kirchenleitung positioniert sich öffentlich gegen eine härtere Gangart bei Abschiebungen. Und auch quantitativ hat das Thema Kirchenasyl zuletzt an Bedeutung gewonnen. Im Dezember berichtete die evangelischen Kirchen Niedersachsens von 70 Kirchenasylen für 88 Menschen – im Vorjahr waren es nur 31, davor 17. Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen wollte sich vorerst nicht zu dem Vorfall in Bienenbüttel äußern.

Das Innenministerium erklärte am Mittwoch, Ende des Monats das Gespräch mit den Kirchen, der Landesaufnahmebehörde und dem Bamf zu suchen. Die Zahl der Härtefälle, bei denen die Kirchen und die Bundesbehörde nicht übereinkommen, sei stark gestiegen, erklärte Innenministerin Daniela Behrens (SPD). „Bei dem gemeinsamen Treffen soll deshalb offen unter anderem über das gemeinsame Verständnis von Härtefällen, den Umgang mit Kirchenasyl sowie über die Möglichkeiten der Anrufung der niedersächsischen Härtefallkommission gesprochen werden.“