Darum geht es: Mit Spannung war in dieser Woche die Entscheidung von Justizministerin Barbara Havliza erwartet worden. Würde sie dem Gnadengesuch des verurteilten Auschwitz-Mittäters Oskar Gröning stattgeben? Die überraschende Nachricht vom Tode Grönings beendete diese Prüfung. Dazu ein Kommentar von Klaus Wallbaum.

Entscheidung interessiert international

In den ersten gut 100 Tagen ihrer Amtszeit wirkt Niedersachsens neue Justizministerin Barbara Havliza wie eine Politikerin, die keinem Konflikt aus dem Wege geht, die mit Leidenschaft neue Debatten anstößt und sich gern in Auseinandersetzungen begibt. Wenn nun alles wie geplant gelaufen wäre, hätte sie noch in dieser Woche einen ganz großen Auftritt gehabt. Denn die Frage, ob der 96-Jährige verurteilte Auschwitz-Täter Oskar Gröning seine Haft wirklich antreten muss oder von Havliza begnadigt wird, interessiert die Menschen nicht nur in ganz Deutschland, sondern international. Wie sich die Ministerin auch entschieden hätte, es wären ihr heftige Kritik und starker Zuspruch in jedem Fall gewiss gewesen. Insofern kann man auch sagen: Gröning hat mit seinen Ableben die Justizministerin aus einer Zwickmühle befreit.

Ohne Tätigkeit konnte Mordmaschine nicht funktionieren

Eines war seit Monaten klar: Gröning ist in einem außergewöhnlichen Prozess zur Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilt worden, er sollte eine vierjährige Haft antreten. Das war nur möglich, weil die Gerichte mittlerweile die „funktionelle Beihilfe“ ohne direkte Tatbeteiligung als Grundlage für die Bestrafung anerkennen. In Auschwitz hat Gröning die Wertsachen der Holocaust-Opfer durchsucht, ihnen Geld abgenommen und dieses verwaltet. Ohne diese Tätigkeit als „Buchhalter“ konnte nach Überzeugung des Gerichts die Mordmaschine nicht funktionieren. Damit beschritt das Landgericht Lüneburg einen neuen Weg, der noch Jahrzehnte vorher in anderen deutschen Gerichtsverfahren nicht gewählt wurde. Früher galt die Regel, dass die jeweilige individuelle Schuld an einzelnen Mordtaten nachgewiesen werden musste. Das hat sich nun geändert, ein Schritt mit riesigem positiven Widerhall in der Öffentlichkeit. Endlich ist es nun möglich, die „Schreibtischtäter“ und anderen Beteiligten im System der NS-Vernichtungslager zur Verantwortung zu ziehen. Endlich, nach Jahrzehnten der deutschen Justizgeschichte, in denen sich Richter und Ankläger als zu solchen Entscheidungen unfähig oder unwillig erwiesen hatten.

Gröning sollte für jahrzehntelange Versäumnisse büßen

Diese Ausgangslage macht die Sache noch schwieriger. Der verurteilte Auschwitz-Täter Oskar Gröning war eben nicht mehr nur der alte Mann aus Nienburg, sondern eine Symbolfigur – nämlich die Person, an der man beispielhaft zeigen konnte, dass die Justiz eben doch in der Lage ist, jemand für die ungeheuerlichen Verbrechen in Auschwitz zu bestrafen. Für manche mag das auch die Gelegenheit geboten haben, das schlechte Gewissen der deutschen Gerichtsbarkeit zu bereinigen: Gröning sollte büßen für jahrzehntelange Versäumnisse von Richtern und Staatsanwälten. Er wäre der erste nach den neuem Begriff der „funktionellen Beihilfe“ verurteilte Auschwitz-Täter gewesen, der – im Greisenalter – seine Haft angetreten hätte. Dies wäre ein Signal an die vielen Angehörigen der Opfer des NS-Terrors gewesen, dass sie doch Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat haben können. Weil dieser eben konsequent sein kann.

Wann bekommt Ruf nach „Gnade vor Recht“ Sinn?

Nur: In diesem gedanklichen Zusammenhang spielt der Täter keine Rolle mehr, der Akt der Gnade auch nicht. Nun steht niemandem eine Gnade zu, es gibt kein Recht darauf. Man kann auch der Meinung sein, dass bestimmte Taten – die Beihilfe zum Holocaust gehört unzweifelhaft dazu – nach der Verurteilung unbedingt die Strafverbüßung erfordern, da sonst ein Rechtsfrieden nicht möglich wäre. Auf der anderen Seite steht die Persönlichkeit des Täters. Wann, wenn nicht bei einem 96-jährigen Greis, bekommt der Ruf nach „Gnade vor Recht“ überhaupt einen Sinn? Man konnte Gröning, der zwar verwirrt wirkte, dennoch aber dem Prozess aufmerksam folgte, auch ein Gefühl der Reue nicht absprechen. Er war durchaus einsichtig, falsch gehandelt zu haben. Inwieweit er die Bedeutung seiner Taten einsah oder sich mit Verweis auf die Ausführung von Befehlen von Schuld freizusprechen suchte, steht auf einem anderen Blatt.

Tod hat vor schwieriger Entscheidung bewahrt

Wäre Gröning die Gnade gewährt worden, gäbe es jetzt eine Debatte über die Frage, ob man einen Mittäter in Auschwitz überhaupt begnadigen darf. Wäre ihm die Gnade verwehrt worden, hätten wir eine Diskussion darüber, ob am Beispiel dieses alten Mannes ein Exempel statuiert werden sollte, das den Sinn von Gnade im Rechtssystem ausblendet. Der Tod des nach Gnade Suchenden hat die Justizministerin vor dieser schwierigen Entscheidung bewahrt.

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