Opposition hält die Corona-Strategie der Regierung für gescheitert
Die Aussagen, die Stephan Weil und Bernd Althusmann noch zu Beginn dieser Woche zur Corona-Krise von sich gaben, möchten beide heute vermutlich lieber ungeschehen machen. Denn ihre Botschaft war in Wort und Ausdrucksweise eindeutig: Sie sähen derzeit keinen Grund für weitere Verschärfungen der Auflagen, an den Lockerungen zu den Festtagen wollten sie festhalten, einen Stufenplan für mögliche Erleichterungen im neuen Jahr könne man vorbereiten. Das Gefühl, das die beiden Spitzen der Großen Koalition ihren Zuhörern vermittelten, war weihnachtliche Harmonie: Alles laufe gut, die Lage sei im Griff.
Ein paar Tage später nun, am Donnerstagmorgen, überraschte die Regierung dann mit ihrer Kehrtwende. Nachdem Bayern und Sachsen härte Auflagen angekündigt hatten, danach noch Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, flankiert von mahnenden Worten der Kanzlerin, zieht nun auch Niedersachsen nach: Die Kontaktbeschränkungen werden nun doch verschärft, ab Montag dürfen die Schüler auf eigenen Wunsch der Eltern zuhause bleiben – und weitere Auflagen für den Einzelhandel drohen noch. Wie stark sie sein werden, wolle man im Kreis aller Ministerpräsidenten klären, vermutlich am Sonntag.
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Woher der Sinneswandel? Wollten die Niedersachsen im Konzert der Bundesländer nicht die letzten sein? Nachdem Weil die neuen Schritte gestern in einer spontanen Regierungserklärung im Landtag vorgetragen hatte, attestierte ihm FDP-Fraktionschef Stefan Birkner „das totale Scheitern seiner Strategie“. Seine Neigung, die Menschen zu beruhigen und die Dramatik aus jeder Situation nehmen zu wollen, räche sich jetzt. „Sie geraten in einen Begründungsnotstand. Ihr Handeln wird nicht mehr als nachvollziehbar und berechenbar empfunden“, rüffelte der Freidemokrat.
Man frage sich mancherorts schon, was „die in Hannover“ da wieder ausheckten. Besonders drastisch sei das erkennbar an den abwehrenden Reaktionen der Regierung auf den Vorstoß des Oberbürgermeisters Frank Klingebiel (CDU) aus Salzgitter, der vor zwei Wochen in seiner Stadt die Aufteilung der Schulklassen für den Präsenzunterricht verfügt und dafür vom Land keine Unterstützung bekommen hatte. Er wurde im Gegenteil gemaßregelt. „Erst die Kritik an Klingebiel – und jetzt tun sie genau das, was er kürzlich erst angeschoben hatte“, rügte Birkner und sagte voraus, dass nun von kommendem Montag an der Schulunterricht „praktisch landesweit ausfallen“ werde.
Weil hatte zuvor angekündigt, dass die Eltern selbst entscheiden können, ob ihre Kinder in die Schule gehen. Wer das wolle, dessen Kinder würden betreut – und wer zuhause bleiben wolle, erhalte dann „digitale Lernangebote“. „Das klappt doch nicht“, entgegnete Birkner. Weder seien die Lehrer vorbereitet, noch sei die Digitalisierung schon weit genug. Die Regierung versicherte daraufhin: doch, jede Schule sei zum einen informiert, zum anderen lägen längst Konzepte vor.
Keine Entschädigung für die Eltern
Die Landesregierung hätte auch einfach die am 18. Dezember startenden Schulferien um fünf Tage vorziehen können. Dass das nicht geschieht, hat gute Gründe – denn wegen der Freiwilligkeit können die Eltern, die ihre Kinder zuhause betreuen müssen, keinen Entschädigungsanspruch gegen den Staat ableiten. Sie müssen alles selbst und auf eigene Kosten organisieren. Das Konzept der Regierung sieht nun noch weitere Änderungen vor. So solle es zwar dabei bleiben, über Weihnachten (also vom 24. bis 26. Dezember) die Kontaktbeschränkungen zu lockern. Maximal zehn Personen (wobei Kinder unter 14 Jahren nicht mitgerechnet werden) dürfen sich dann treffen. Eigentlich war vorgesehen, diese Regel auch bis Neujahr zu verlängern, davon nimmt Niedersachsen nun wieder Abstand. Ab 27. Dezember gilt dann, wie bereits bis zum 23. Dezember: Jede Person darf in der Öffentlichkeit und auch privat maximal fünf Personen aus höchstens zwei Haushalten besuchen oder als Besucher empfangen. Diese Maßnahme soll Kontakte minimieren und die Ansteckungsgefahr verringern – und sie soll bis 10. Januar gelten, also bis zum Ende der Schulferien.
Die neuen Auflagen gehen noch weiter. Der Verkauf von Alkohol zum Direktverzehr, so etwa an Glühweinständen, soll untersagt werden. „Ich hätte nie gedacht, wie kreativ die Menschen bei solchen Aktionen sein können und rasch mal 200 Leute auf die Straße bringen“, erklärte SPD-Fraktionschefin Johanne Modder. Was den Einzelhandel angeht, wird zwischen den Ländern wohl am Sonntag eine Verständigung gesucht, denn bundesweite Einheitlichkeit sei sinnvoll, um keine Kundenströme in Gang zu setzen. Weil sagte, es gebe drei mögliche Wege: keine Geschäftsschließungen, Schließungen zwischen Weihnachten und Silvester oder Schließungen gleich bis zum 10. Januar. Diese Schritte seien für ihn „ein wichtiger Beitrag zum vorsorgenden Brandschutz“, betonte Weil und fügte hinzu: „Wir wollen Voraussetzungen schaffen für sehr stille, ruhige Festtage und einen stillen Jahreswechsel.“
FDP bemängelt Inkonsequenz
Die Reaktionen im Plenum waren geteilt. Der FDP-Chef Birkner hielt der Regierung Inkonsequenz vor und bemängelte, dass alternative Wege, etwa den gezielten Schutz von Risikogruppen, gar nicht gründlich geprüft worden seien. Die Grünen-Fraktionschefin Julia Hamburg kritisierte, die Entscheidungen der Regierung kämen zu spät und träfen viele Menschen, die inzwischen schon für die Tage nach dem Weihnachtsfest ihre Reisen gebucht hätten, unvorbereitet. Richtig sei es jedoch, den Einzelhandel nicht jetzt gleich einzuschränken und damit eine Kaufhektik auszulösen. Die beiden Fraktionschefs von SPD und CDU, Johanne Modder und Dirk Toepffer, nutzten ihre Reden zunächst für heftige Vorwürfe an die Opposition. Modder meinte, ein „Schlingerkurs“ sei doch gerade den Grünen und der FDP vorzuhalten. Die Grünen hätten noch vor Wochen weitere Lockerungen verlangt, würden jetzt aber einem schärferen Lockdown das Wort reden. Und wenn man den Vorschlägen der FDP im Sommer gefolgt wäre, „dann wäre die Situation jetzt viel schlimmer“. Toepffer warf Birkner und Hamburg vor, sie seien es, die Unsicherheiten schürten, wenn sie dauernd „eine Strategie“ verlangten, dabei aber die vorhandene Strategie der Regierung ignorierten. Modder meinte: „Das Virus hält sich nicht an eine Strategie.“
Die Fraktionschefs von SPD und CDU ließen in ihren Reden aber auch erkennen, dass sie sich für die Regierungspolitik durchaus noch andere Schwerpunkte hätten vorstellen können. Aber weder Modder noch Toepffer warben dafür, die Verschärfungen schwächer auszugestalten oder Lockerungen anzupeilen. Das Gegenteil war der Fall: Modder, die ungewohnt emotional sprach, setzte sich dafür ein, Beschränkungen im Einzelhandel bis zum 10. Januar zu terminieren – „damit sich der gewünschte Effekt auch einstellt“. Sie erklärte, dass das Virus viele Abgeordnete der Koalition „ein bisschen mürbe gemacht“ hätten: „Ich habe mir noch nie so sehr gewünscht wie derzeit, dass das Jahr zu Ende geht.“ Toepffer bekannte sich dazu, er selbst hätte auch die erweiterten Kontaktmöglichkeiten zu den Weihnachtsfeiertagen gekippt – „aber das sehen auch in meiner Fraktion viele anders“.
Die einzigen, die vehement gegen die neue Linie der Landesregierung auftraten, waren drei Redner aus der früheren AfD-Landtagsfraktion. „Wir dürfen nicht die Wirtschaft ruinieren, sondern müssen die Risikogruppen abschirmen, so wie das Boris Palmer in Tübingen macht“, sagte Jens Ahrends. „Das Gesundheitswesen ist gar nicht überlastet, es sind genügend Betten in der Intensivmedizin frei“, meinte Stephan Bothe und erhob den Vorwurf der „Panikmache“. Dana Guth erklärte: „Wenn es früher am 24. Dezember klingelte, war es der Weihnachtsmann. Jetzt dürfte es das Ordnungsamt sein.“ (kw)