Wer etwas über Mirko Temmler erfahren will, den Leiter des „Kompetenzzentrums Großschadenslagen im Innenministerium“, wie es technisch korrekt heißt, ist im ersten Moment überrascht. Der Fachmann für Rettungsingenieurwesen tritt nämlich als Autor eines Buches mit dem Titel „Influenza-Pandemie – Prävention und Maßnahmen“ in Erscheinung. Da staunt der Betrachter: Seit acht Monaten hält Corona die Politik und die Landesverwaltung in Atem – und währenddessen findet einer der wichtigsten Manager des Landes in Katastrophenschutzfragen noch die Zeit, über dieses Thema ein wissenschaftliches Buch zu schreiben? Hat er nicht schon genug Stress? Und wie kommt er zu Empfehlungen, wenn die Krise doch noch gar nicht vorüber ist?

Foto: Temmler

Die Aufklärung liegt in einem Missverständnis. Das Buch, das jetzt in den Fachbehörden gern zur Lektüre herangezogen wird, handelt gar nicht von der Corona-Pandemie. Temmler hat es zusammen mit einem Kollegen 2011 geschrieben, und die Erfahrungen, die er dort verarbeitete, bezogen sich auf die Grippewelle im Jahr 2009, die zunächst ähnlich dramatisch zu werden drohte wie jetzt die Corona-Pandemie, dann glücklicherweise aber doch viel milder verlief. Immerhin hatte Temmler damals nach der „Schweinegrippe“ den Weitblick oder die Intuition, die seinerzeitigen Abwehrschritte zu Papier zu bringen und ein paar Tipps und Hinweise zu liefern, wie der Staat im Fall einer neuen Pandemie dann verfahren sollte.

Das bezog sich seinerzeit auf Rheinland-Pfalz, denn Temmler war 2009 als Katastrophenschutzreferent des Deutschen Roten Kreuzes in Mainz beschäftigt. Ob sein damaliges Buch heute die Handlungsanweisungen liefern kann? Temmler ist eher skeptisch: „Was wir damals hatten, war Influenza-Pandemie. Und es ging beispielsweise auch darum, dass man diese mit bestimmten Medikamenten bekämpfen kann. Die Wirkstoffe verhindern, dass das Virus sich im Körper festsetzt. Leider gibt es bei der Covid19-Erkrankung solche Medikamente nicht.“ Und trotzdem: Das Temmler-Buch gibt wichtige Hinweise in einem Bereich, der nach Einschätzung vieler Beobachter in den vergangenen Jahren in Deutschland höchst stiefmütterlich behandelt wurde: die Katastrophen-Vorsorge.

Cheforganisator der Massenimpfungen

Heute zehrt Temmler von den damaligen Erfahrungen, denn er organisierte in Mainz im kleinen Rahmen das, was jetzt im großen Stil auf Deutschland und auch auf Niedersachsen zukommt: eine Massenimpfung. In Rheinland-Pfalz sollten seinerzeit 80.000 Mitarbeiter von Rettungsdiensten, Polizei und Feuerwehr zunächst die Impfung bekommen – und die Hälfte von ihnen habe das dann auch in Anspruch genommen. Wie man ein solches Impfsystem aufbaut, wie man es betreut und flexibel managt, dafür konnte er schon ein Gefühl entwickeln. Der Berufsweg des heute 37-Jährigen ging weiter – er wechselte nach Niedersachsen, wurde Dezernent für Katastrophenschutz bei der Polizeidirektion Hannover, wurde abgeordnet ins Innenministerium und schrieb Konzepte, wie sich das Land beispielsweise vorbereiten müsste, wenn es plötzlich in einem Kernkraftwerk einen Unfall geben sollte.

Foto: Temmler

2014 hatte er zu tun mit einer lange geplanten Bund-Länder-Übung zur Krisenbewältigung, simuliert wurde eine schwere Sturmflut. Im zweiten Halbjahr 2015 sollte diese dann losgehen. Doch kurz vor dem Start, im September, wurde die Übung aus aktuellen Grund abgesagt, denn alle Kräfte wurden benötigt für eine reale Krise – die Unterbringung der Flüchtlinge aus Syrien musste organisiert werden. Temmler war direkt am Ball, wirkte ganz vorn im Team des Innenministeriums mit. Er bewahrte in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf – das fiel bei seinen Vorgesetzten positiv auf, wie man hört.

„So etwas hat es bisher noch nie gegeben“

Nun, fünf Jahre später, kommt die nächste Herausforderung, und inzwischen sitzt Temmler an der Stelle, die sich gerade im Zentrum befindet – er ist Referent für Katastrophenschutz im Niedersächsischen Innenministerium und damit der Kopf des bis zu 120 Funktionsstellen umfassenden Kompetenzzentrums für Großschadenslagen, das seinen Sitz derzeit in Celle hat, seiner Heimatstadt. Eigentlich agiert diese Einheit von Hannover aus – aber wegen der nötigen größeren Abstände und großen Personalkörper des Stabes entschied man sich nach einigen Wochen der Pandemie dazu, dass die Räumlichkeiten im Seminartrakt der Akademie für Brand- und Katastrophenschutz auch aus Infektionsschutzgründen besser geeignet wären. Temmlers Kollegen waren bisher schon mit der Beschaffung von Schutzmasken und -handschuhen befasst. Erst war das Material kaum zu bekommen, dann häuften sich täglich hunderte Angebote verschiedener Firmen, die auf ihre Eignung geprüft werden mussten. Der Aufbau und Betrieb der 50 landesweiten Impfzentren, deren Arbeit zentral geleitet werden soll, ist nun noch einmal eine neue, quasi historische Herausforderung. „So etwas hat es bisher noch nie gegeben“, sagt Temmler


Lesen Sie auch:

Land plant neue Behörde für Katastrophenschutz

In Niedersachsen sollen bis zu 60 Impfzentren entstehen


Er selbst ist der Kopf der Gruppe, hält ständig Kontakt zum Interministeriellen Krisenstab. Sein Abteilungsleiter Alexander Götz sitzt in diesem Stab und tauscht sich ständig mit Temmler aus. Temmler hält Verbindung zu den Kommunen und lokalen Impfzentren – und mit dem Sozialministerium, wenn es um den Nachschub und die zentrale Terminvergabe geht. Sollte an einer Stelle etwas fehlen, was an anderer entbehrlich ist, wird Temmler aktiv. Wenn das Land aushelfen muss, wenn Ärzte fehlen oder plötzlich neue Räume gebraucht werden sollten, ist Temmler gefragt. Und wenn in einem Impfzentrum gähnende Leere herrschen sollte, weil viele Bürger keine Termine vereinbaren – in anderen dagegen die Menschen Schlange stehen, muss Temmler zu einer Lösung kommen. Er ist gewissermaßen der, auf den es jetzt ankommt. In seiner Bescheidenheit würde er das von sich so nie sagen.

Wird das nicht womöglich alles ganz schrecklich? „Ich bin kein sorgenvoller, sondern ein optimistischer Mensch“, sagt der eher zurückhaltende Temmler, verheirateter Vater von zwei Kindern, der viel lieber über seine Aufgabe als über sich selbst redet. Und wenn tatsächlich vor einem Impfzentrum viele Menschen stehen, die jetzt ganz dringend geimpft werden wollen? „Was wir dann nicht tun können, ist, diesen sofort eine Spritze zu geben. Das geht schon deshalb nicht, weil auf den Tag genau drei Wochen später beim Biontec-Impfstoff die zweite Impfung geschehen muss. Aber wir können die Leute hereinbitten und beraten, wie sie einen Termin erhalten können“, sagt er. Es werde dann auch möglich sein, auf spezielle Wünsche einzugehen – wenn etwa jemand lieber nahe am Arbeits- statt am Wohnort geimpft werden will. Denn einen Grundsatz will der an Lebensjahren noch junge, aber in Krisenlagen trotzdem erfahrene Beamte beherzigen – im Zweifel muss man immer flexibel bleiben und dem Ansatz folgen, dass sich für alle Herausforderungen ein Weg finden lässt. (kw)