Brauchen wir vergrößerte Kreise, wenn wir uns künftig noch überall gutes Fachpersonal leisten wollen? Der Rundblick bereitet das Thema in einer Serie auf. Heute der zweite Teil: Warum gute Pläne nicht umgesetzt werden.

Wenn die Vorhersage eingetroffen wäre, hätten wir jetzt schon eine neue Landkarte in Niedersachsen – eine mit zukunftsfesten kommunalen Einheiten. Denn es war ein Sommertag im Juli 2010, an dem der von der Landesregierung bestellte Gutachter eine klare Prognose verkündete: „Spätestens in vier Jahren wird gehandelt werden müssen.“ Kein geringerer als der bundesweit anerkannte Verwaltungswissenschaftler Prof. Joachim Jens Hesse aus Berlin sprach diese Worte aus. Zuvor hatte er im Auftrag der Landesregierung ein Gutachten geschrieben, 435 Seiten stark, in dem er die Größe und Leistungsfähigkeit des Verwaltungsaufbaus unter die Lupe genommen hatte. Das Ergebnis des Wissenschaftlers war eindeutig: 20 Landkreise seien „stabilisierungsbedürftig“, etliche davon würden auf Dauer ihre Lebensfähigkeit einbüßen. Zusammenschlüsse seien die nötige Folge, und dies solle geplant und mit Augenmaß geschehen. Die Entwicklung, so Hesses Schlussfolgerung, lasse sich über längere Zeit nicht mehr aufhalten.


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Als die vier Jahre vorüber waren, Mitte 2014, hatte sich bis auf eine Ausnahme, die Fusion der Kreise Göttingen und Osterode, nichts getan. Das ist nun wieder fünf Jahre her, und Niedersachsen gliedert sich immer noch in 37 Landkreise und acht kreisfreie Städte. Große Kreise mit vielen Einwohner und reichlich Fläche sind darunter, so etwa die Region Hannover, der Kreis Emsland und der Kreis Osnabrück, aber auch viele Mini-Kreise, die dünn besiedelt (Lüchow-Dannenberg) oder mit kleiner Fläche versehen sind (Holzminden, Wittmund). Prof. Hesse kann man nach dem Fehlschlag seiner Vorhersage nicht mehr befragen, er ist Anfang 2018 gestorben. Wenige Wochen vor seinem Tod beschloss die neue SPD/CDU-geführte Landesregierung zwar, in einer Kommission die Struktur und Arbeitsweise der Landes- und Kommunalverwaltung zu überprüfen. Sogar Ergebnisse „bis Mitte 2019“ peilte der Koalitionsvertrag an – der Termin wäre nun in wenigen Wochen. Aber nach Vertragsabschluss im Herbst 2017 geschah erst einmal nichts. Die Landesregierung wirkt bis heute nicht so, als spürte sie Handlungsdruck. Bisher ging es allen ja auch recht gut. Sogar solche Kreise, die früher mit Finanzproblemen zu kämpfen hatten, profitierten deutlich von der über Jahre spürbaren Fülle in allen staatlichen und kommunalen Kassen.

Die größeren Kreise dürften im Vorteil sein

Viel spricht dafür, dass sich die Rahmenbedingungen drastisch ändern, der Handlungsdruck für die Politik dann also schlagartig größer wird. Wenn die Steuerquellen versiegen, werden die Kreise in strukturschwachen Gegenden besonders darunter leiden. Wenn der Konkurrenzkampf um qualifiziertes Personal immer härter wird, werden die kleinen Kommunalverwaltungen kaum mit lukrativen Angeboten locken können. Die größeren dürften dann im Vorteil sein. Und wenn die Digitalisierung immer mehr Wege aufzeigt, Verwaltungstätigkeiten computergestützt oder automatisiert abzuwickeln, werden die herkömmlichen Behördenaufbauten grundsätzlich in Frage gestellt. Die Sinn-Frage für kleine Verwaltungen wie ein Kreishaus in Holzminden, Wittmund oder Lüchow dürfte sich dann noch stärker als heute stellen.

„Interkommunale Zusammenarbeit“ ist keine Lösung

Der Gutachter Hesse hat darauf eine Antwort. Er kommt zu dem Schluss, dass eine „interkommunale Zusammenarbeit“ auf Dauer keine Lösung ist. Wenn ein Kreis-Kämmerer nebenher sich auch um die Finanzen des benachbarten Landkreises kümmert, kann das so lange gut gehen, wie die Interessen seines eigenen Kreises nicht gegen die des von ihm mitbetreuten Kreises stehen. Kommt es aber doch zu Interessenskonflikten, so muss von jedem Kreisbediensteten erwartet werden, zuerst an die Belange seines Arbeitgebers zu denken. So schlicht wie überzeugend diese Logik ist, so überzeugend ist sie ein Argument für die Fusion von Landkreisen – sofern jeder Kreis nach wie vor den Anspruch erhebt, seine wichtigsten Angelegenheiten selbst zu erledigen, also „kommunale Selbstverwaltung“ nicht nur zu propagieren, sondern auch zu leben.

Hesse empfahl mehrere Fusionen: Erstens Aurich, Leer und Emden, zweitens Wittmund, Friesland Wilhelmshaven und Wesermarsch, drittens Cuxhaven und Osterholz, viertens Rotenburg und Verden, fünftens Stade und Harburg, sechstens Lüneburg, Uelzen und Lüchow-Dannenberg, siebtens Emsland und Grafschaft Bentheim, achtens Cloppenburg und Vechta, neuntens Stadt und Kreis Osnabrück, zehntens Diepholz und Nienburg, elftens Schaumburg, Hameln-Pyrmont und Holzminden, elftens Northeim, Göttingen und Osterode, zwölftens Goslar, Salzgitter und Wolfenbüttel, dreizehntens Peine und Hildesheim, vierzehntens Heidekreis und Celle, fünfzehntens Ammerland, Kreis Oldenburg und Delmenhorst, sowie sechzehntens Gifhorn, Wolfsburg und Helmstedt. In diesem Konzept bliebe die Region Hannover unverändert, die Städte Braunschweig und Oldenburg blieben kreisfrei.

Warum aber will eine Entwicklung in diese Richtung (mit der einen Ausnahme in Göttingen und Osterode) nicht vorankommen? Das Weber-Gutachten von 1969 war stark von effektiver Verwaltung geprägt, damals wurde die Mindestgröße von 150.000 für jeden Kreis angepeilt. Dass fast 20 Kreise unter dieser Grenze blieben, wurde schon seinerzeit hingenommen. Nachhaltig hält sich in der Landespolitik die Legende, dass es die Verärgerung viele Kommunalpolitiker über die Ruppigkeit der Landesregierung in den siebziger Jahren gewesen sei, mit der die damalige Kreisreform verwirklicht wurde, die 1976 aus den Reihen der SPD und FDP zu einem „Racheakt“ geführt habe: Damals verloren die SPD-Kandidaten Helmut Kasimier und Karl Ravens in geheimer Wahl im Landtag, der CDU-Bewerber Ernst Albrecht wurde dank Überläufern neuer Regierungschef. Seither meiden die verantwortlichen Landespolitiker das Thema Gebietsreform wie der Teufel das Weihwasser.

Hesse-Gutachten sollte den Weg ebnen

In den Regierungszeiten von Ernst Albrecht (1976 bis 1990) und Gerhard Schröder (1990 bis 1998) tat sich an dieser Stelle nichts. Eine Kreisreform lag nahe, nachdem unter Christian Wulff (2003 bis 2010) die Bezirksregierungen abgeschafft wurden. Laboriert wurde an der Zukunft des Kreises Lüchow-Dannenberg, jedoch ohne Resultat. Druck entfaltete sich in der Region Braunschweig, doch lokale Vorstöße dort trafen in Hannover nicht auf fruchtbaren Boden. Das Hesse-Gutachten sollte immerhin den Weg ebnen, aber CDU und FDP fehlte zum Schluss die Entschlussfreude an der Umsetzung. Seit 2013 regierte Rot-Grün, und dort setzte sich ein anderer Weg durch – anstelle einer Stärkung der Kommunen durch Fusionen wurde mit den „Landesbeauftragten“ eine Wiederentstehung kleiner Bezirksregierungen versucht.

Der Zusammenschluss der Kreise Peine und Hildesheim, der vor Ort ernsthaft und zielstrebig vorbereitet worden war, ist verhindert worden – und die Fusion von Wolfenbüttel und Helmstedt scheiterte auch. In beiden Fällen wirkte die Landesregierung eher als Bremser denn als Schrittmacher, wie man es eigentlich erwartet hätte. Wobei es aus der Umgebung von Innenminister Boris Pistorius heißt, die Fusion von Wolfenbüttel und Helmstedt sei nicht an ihm, sondern an der Widerborstigkeit der Landrätin Christiana Steinbrügge aus Wolfenbüttel gescheitert.

Als Schwarz-Gelb regierte, hieß es stets: Eine richtige Gebietsreform, dafür sei eine breite Mehrheit im Landtag, parteiübergreifend, erforderlich. Dazu fehle jedoch die Verständigung. Als Rot-Grün anschließend die Regierung stellte, sagte man: Ein solches Projekt ist doch mit einer Einstimmenmehrheit im Landtag nicht zu leisten. Jetzt gibt es seit bald zwei Jahren eine Große Koalition mit stattlicher Mehrheit im Parlament. Die Ausreden, warum man das Thema nicht angeht, überzeugen also nicht mehr. (kw)