Martin, der Eisenbahnschaffner, und die gefährlichen „Konjunkturritter der Niedertracht“
Irgendwann, im letzten Drittel seiner Rede, ist SPD-Kanzlerkandidat wieder bei sich selbst – ein Thema, mit dem er glaubt, bei den Leuten gut punkten zu können. Immerhin, sie klatschen alle braven Applaus. Keine riesige Begeisterung, aber doch durchweg freundliche Zustimmung. Der Platz auf dem Kröpcke in Hannovers Innenstadt ist gut gefüllt, es sind überwiegend Anhänger hier. Störer, die bei Kundgebungen von Angela Merkel inzwischen üblich sind, haben sich nicht auf den Weg zu Martin Schulz gemacht. Vielleicht liegt es auch an Hannover, der Stadt, die ein bisschen wie die warme Stube der Sozialdemokraten ist. Oberbürgermeister Stefan Schostok ist erschienen, außerdem sein Vor-Vorgänger Herbert Schmalstieg. Bekannte Gesichter, auch für Schulz. Nur Schostoks direkter Vorgänger Stephan Weil fehlt, er hat eine gute Entschuldigung – gleichzeitig tagt in 500 Metern Luftlinie der Landtag in seiner letzten Sitzung, da ist für den Ministerpräsidenten Anwesenheitspflicht.
So redet nun, nahe der Kröpcke-Uhr, Schulz über Schulz. „Ich habe kein Abitur, klar, aber das ist nicht das einzige, was ich derzeit über mich lesen muss“, sagt er, es klingt ein wenig anklagend, obwohl es wohl eher selbstironisch gemeint ist. Er sei einer mit Glatze oder Bart, und solche Politiker seien noch nie zum Kanzler gewählt worden. Er kaufe Anzüge von der Stange – und seine Brille erinnere an ein Kassengestell. Dann werde ihm noch die „Aura eines Sparkassenangestellten“ und der „Charme eines Eisenbahnschaffners“ nachgesagt. Schulz macht eine kleine Kunstpause und spricht dann etwas lauter, und das klingt nun gar ironisch oder gar witzig: „Welche Haltung ist das eigentlich – was ist an Sparkassenangestellten verwerflich? Und was ist an Eisenbahnschaffnern unanständig? Was ist das bloß für eine Haltung?“
Diese Szene ist der Höhepunkt und zugleich der Kern des Wahlkampfauftritts von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in der SPD-Hochburg Hannover, vier Tage vor der Bundestagswahl: Er ist wieder der einfache Mann aus Würselen, der Mann von nebenan, direkt aus dem Volk – einer von unten, der ganz nach oben will. Eben doch der Eisenbahnschaffner. Den Satz „Ich will der nächste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden“, verkneift Schulz sich an diesem Tag – vielleicht hat ihn die Kritik beeindruckt, das dies angesichts der Umfragedaten derzeit recht illusionär erscheint. Aber er sagt: „Der nächste Kanzler wird ein Sozialdemokrat sein.“ Das kommt zwar aufs Gleiche raus, lässt aber offen, ob es wirklich Schulz ist, der Angela Merkel für die SPD beerben soll.
Deutschland kann sich mehr leisten, wenn ein Sozialdemokrat Kanzler ist
Ein plötzlicher Mangel an Selbstbewusstsein? Wohl nicht, denn sofort nach seiner Gleichsetzung mit dem Eisenbahnschaffner präsentiert der SPD-Chef seine Vision von einer „Gesellschaft des Respekts“: Der Busfahrer, der morgens die Kinder sicher zur Schule bringe und nachmittags wieder abhole, verdiene den gleichen Respekt wie die Ärztin, die im Krankenhaus operiert. Frei interpretiert: Einem ohne Abitur wie Schulz, oder auch einem Eisenbahnschaffner, müsse die gleiche Achtung wie der promovierten Physikerin Angela Merkel zuteil werden. „Wenn wir keine Gesellschaft des Respekts formen, gewinnen die Konjunkturritter der Niedertracht“, fügt er hinzu und schimpft auf die „Autokraten Trump, Putin und Erdogan“. Also Schulz wählen um Populisten zu verhindern? Schon ist der SPD-Chef bei der AfD und beim März 1933, als Vertreter seiner Partei die einzigen gewesen seien, die gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz im Reichstag stimmten. Das streichelt die sozialdemokratische Seele. Wieder braver Applaus.
Er redet ausführlich, räumt Zug um Zug die Themen ab, die er hier vermitteln will. Die Ehe für alle etwa – das sei ein Erfolg der SPD. „Deutschland kann sich mehr leisten, wenn ein Sozialdemokrat Kanzler ist“, sagt Schulz. Es gehe derzeit nicht gerecht zu, an der CDU sei die Verschärfung der Mietpreisbremse gescheitert. „Wir schaffen die unbefristeten Arbeitsverträge ab“, sagt er, meint aber die befristeten. Die CDU wolle die Rente mit 70, auch wenn die Kanzlerin es anders gesagt habe. Aber wie könne eine 70-jährige Altenpflegerin einen 80-Jährigen pflegen – oder wie könne eine 70-jährige Kindergärtnerin die Kleinen betreuen?
Die Manager der Autoindustrie hätten dem Wirtschaftsstandort schwer geschadet, beim Breitbandausbau liege Deutschland hinter Mexiko und Chile – und beim Mobilfunknetz hinter Peru. „Das sei das Resultat von zwölf Jahren Angela Merkel“, betont Schulz und verschweigt, dass in acht dieser zwölf Jahre die SPD für die deutsche Wirtschaftspolitik mitverantwortlich war. Er ist gegen das Zwei-Prozent-Ziel bei den Rüstungsausgaben, für die gebührenfreien Kindergärten und für massive Bundesinvestitionen in das den Ländern zustehende Feld der Bildungspolitik.
Immer wieder nennt Schulz die Kanzlerin, die „Weltmeisterin des Ungefähren“, die für alles verantwortlich sei und von ihm nie gegriffen werden könne. „Sie plappert alles nach. Daran kann ich nichts ändern – es ist echt schwierig für mich, denn die sagt ja nichts.“ Wenn er heute versprechen würde, dass auf dem Kröpcke in Hannover permanent die Sonne scheint, werde Merkel behaupten, das schon vor zwei Tagen in einem CDU-Fachausschuss beschlossen zu haben. Wieder braver Applaus, und passend zu diesen Worten kommen auch die Sonnenstrahlen durch, sie erhellen den Redner und lassen ihn in der Masse noch sichtbarer hervorstechen. Aber oben am Himmel sind auch einige düstere Regenwolken. Immerhin – sie entladen sich an diesem Donnerstag nicht. Noch nicht. (kw)