Ein Europa ohne Grenzen – das soll auch für heimische Pflanzen- und Tierarten gelten. Seit bald 30 Jahren strickt die Europäische Union zu diesem Zweck an einem zusammenhängenden Netz aus verschiedenen Naturschutzgebieten. Die Agenda dahinter firmiert unter dem Titel „Natura 2000“, seit 1992 setzen die Richtlinien für Fauna-Flora-Habitat (FFH) und Vogelschutz den rechtlichen Rahmen. Doch noch immer sind nicht alle Gebiete bestimmt und europarechtskonform gesichert. Seit 2015 steht Deutschland mit der EU-Kommission in Verhandlungen, weil die Bundesrepublik bei der Umsetzung geschlampt hat.

Im Vertragsverletzungsverfahren wird zwar noch über Details gestritten, aber es droht ein Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshof, der teuer werden könnte. In Deutschland lastet der größte Druck derweil auf Niedersachsen, denn hier hinkt man mit der Umsetzung besonders weit zurück. Von knapp 610.000 Hektar Schutzgebieten sind bis jetzt nur knapp 562.219 Hektar nach den Vorgaben aus Brüssel gesichert. Das ist schon ein Fortschritt, aber noch kein Durchbruch. Denn beim Verstoß gegen die EU-Richtlinie ist unerheblich, wie sehr man nach unten abweicht. Doch daran soll sich nun grundlegend etwas ändern. Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) verfolgt das Ziel, das inzwischen schon leidige Thema endgültig abzuräumen. Bis zum Sommer sollen alle Schutzgebiete nach den Standards der EU gesichert sein, noch vor der Kommunalwahl im September soll alles fertig sein.

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Wo steht Niedersachsen derzeit? Von den 385 niedersächsischen FFH-Gebieten sind nach Informationen des Umweltministeriums, die dem Politikjournal Rundblick exklusiv vorliegen, bis heute 352 Gebiete ordnungsgemäß gesichert. Lediglich für 33 Gebiete gilt das nicht. Der Druck durch das Vertragsverletzungsverfahren zeigte in den vergangenen Jahren also durchaus Wirkung, wenn auch noch kein gänzlicher Erfolg zu erkennen ist. Im Jahr 2015, als die EU die Vertragsverletzung anmahnte, hatte Niedersachsen lediglich 96 Gebiete gesichert, im Jahr darauf dann 126, 2017 waren es 153. Im Jahr 2018 kam dann der Kipppunkt: Die Zahl der gesicherten Gebiete überstieg seitdem diejenigen, die nicht gesichert waren. Im Dezember 2018 zählte das Umweltministerium 259 abgeschlossene Sicherungsverfahren, eine erneute Abfrage im April 2019 ergab, dass zu diesem Zeitpunkt dann 266 Verfahren erfolgreich beendet wurden.

Je weniger Gebiete offenblieben, desto zäher wurde der Prozess aber offenbar. Übrig blieben vorrangig die konfliktreichen Fälle. Als dann im Frühjahr 2020 die EU die nächste Eskalationsstufe im Vertragsverletzungsverfahren aufgerufen hatte, versuchte Lies den Druck gezielt weiterzuleiten in die Kommunen. Der Umweltminister hat damals die unteren Naturschutzbehörden angewiesen, die Gebiete bis Oktober desselben Jahres zu sichern. Bis zum Sommer 2020 erhöhte sich die Zahl der gesicherten Gebiete auf 308 von 385, kurz vor Ablauf der Frist waren es dann 315. Das Ziel rückt näher, doch noch ist es nicht erreicht.

Politisch verteilt sich die Schuld auf viele Schultern, zu viele könnte man sagen. Die Natura-2000-Schutzgebiete beschäftigen die Landespolitik nun schon so lange, dass alle derzeit im Landtag vertretenen Fraktionen in Regierungsverantwortung daran mitgetan haben. Ein weiteres Problem bei der Sicherung der Gebiete ist lange schon bekannt und wohl beschrieben: Als die Bezirksregierungen abgeschafft wurden, fiel die Aufgabe der Gebietssicherung an die unteren Naturschutzbehörden und damit an die Landkreise. Dort wurde der Naturschutz dann aber zu einem Aspekt von vielen in den Kreisverwaltungen, er geriet sozusagen zur Masse eines politischen Aushandlungsprozesses, die Kreistage pochten auf eine Beteiligung. Das Feilschen um Schutzgebiete und Maßnahmenpläne schleppt sich seit langem durch viele Kreistage.

Hinzu kommt, dass Schutzgebiete nicht an Landkreisgrenzen halt machen und so dann teilweise mehrere Kreise beteiligt werden mussten. Ein Tauziehen und Klein-Klein zulasten der Umwelt war die Folge. Dass Lies diesen Prozess durchbrechen und die Daumenschrauben deutlich anziehen will, erkennt man auch an dem Vorgehen bei der Naturschutzverordnung „Barnbruchwiesen/Ilkerbruch“. Erst vor wenigen Tagen hat der Umweltminister in diesem Streitfall, bei dem zwei Kommunen beteiligt sind, per Weisung die Einigung quasi erzwungen. Die Stadt Wolfsburg hatte die Verordnung erarbeitet und beschlossen, der Landkreis Gifhorn aber noch nicht. Just an dem Tag, an dem die Weisung aus dem Umweltministerium kam, stimmte Gifhorn dann zu.

Auf der Zielgeraden zieht Lies nun noch ein bisschen stärker an den Zügeln. Wie das Politikjournal Rundblick aus dem Umweltministerium erfahren hat, soll mit einer erneuten Weisung an die unteren Naturschutzbehörden nun folgendes geregelt werden: Bis Ende März sollen die entsprechenden Verordnungsentwürfe erstellt sein. Auch die Beteiligung der Öffentlichkeit und der Träger öffentlicher Belange soll bis dahin abgeschlossen sein. Anschließend sollen die Entwürfe dann an die politischen Gremien der Kommunen weitergegeben und dort beraten werden. Noch bis zur Sommerpause sollen die Verordnungen dort dann beschlossen sein. Aufschub will der Minister nicht mehr dulden. Sollte es zu Verzögerungen kommen, verweist Lies die Kommunen auf die Möglichkeit, auch Sondersitzungen der Kreistage abhalten lassen zu können.

Um den Prozess eng zu begleiten und das Vorankommen zu überwachen, verpflichtet der Umweltminister die Behörden zudem, alle zwei Wochen über den Fortschritt zu berichten. Unter Verweis auf das EU-Vertragsverletzungsverfahren formuliert das Umweltministerium auch noch eine dezente Drohung: Man behalte sich weitere Schritte vor, um für einen Abschluss der Sicherung bis zum Beginn der Sommerpause 2021 der kommunalen politischen Gremien Sorge zu tragen, erklärt eine Ministeriumssprecherin gegenüber dem Rundblick. Detailregelungen wie beispielsweise spezielle Freistellungen könnten unter diesen Umständen etwa nicht zum Tragen kommen, da das Ministerium aus der Ferne die Sachlage nicht so rasch überblicken könne. Das Ministerium richtet also die klare Botschaft an die Kommunen: Macht es jetzt und macht es ordentlich, sonst machen wir es – und das könnte für manche unangenehm werden.

Von Niklas Kleinwächter