Landtag debattiert über Schuld und Verantwortung in der Corona-Pandemie
Der Landtag hat am Dienstag mit großer Mehrheit von SPD, CDU, Grünen und FDP beschlossen, dass Niedersachsen eine Sonderbestimmung im Bundesinfektionsschutzgesetz nutzen soll – und damit künftig bei einer zugespitzten Lage der Pandemie auch Zugänge zu Versammlungen oder zu Einrichtungen noch stärker als bisher regulieren kann. Eine vollständige Schließung etwa von Gaststätten oder Freizeitangeboten ist derzeit nicht möglich, da der Bundestag Mitte November mit der Ampel-Mehrheit die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ aufgehoben hatte.
Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sagte aber in seiner Regierungserklärung, in Kürze solle das Bundesinfektionsschutzgesetz noch einmal nachgebessert und verschärft werden. Die Ministerpräsidentenkonferenz tagt dazu mit dem neuen Bundeskanzler Olaf Scholz am morgigen Donnerstag. Der Bundesrat folgt am Freitag.
Annäherung der Ampel-Fraktionen
Die Plenardebatte über Weils Regierungserklärung war von mehreren Besonderheiten geprägt, die wohl vor allem mit dem Umstand der Regierungsbildung auf Bundesebene zusammenhängen. So wirkte die Frontstellung, die insbesondere die FDP in den vergangenen Monaten stets gegen die Große Koalition eingenommen hatte, auf einmal aufgeweicht.
Zwar griff FDP-Chef Stefan Birkner wie üblich den Regierungschef und auch CDU-Chef Bernd Althusmann an, da die Impf-Werbekampagne viel zu schwach entwickelt sei, die Regierung auf eine nahende Impfpflicht nicht ausreichend vorbereitet sei und die 2Gplus-Regel ein „Chaos“ an den zu wenigen Teststellen ausgelöst habe. Der Regierungsapparat sei „überfordert, die Dinge zu Ende zu denken“.
Aber Birkner ging an anderer Stelle auf die SPD zu, zeigte Verständnis für eine mögliche Impfpflicht und erklärte ausdrücklich seine Sympathie für die gegenwärtige Corona-Verordnung. Für die Grünen sprach Fraktionsvize Christian Meyer, der den Ministerpräsidenten ebenfalls kritisierte, da dieser „sich weder für Fehler noch für Versäumnisse entschuldigt“ habe. Das Werkeln der Regierung an der Corona-Verordnung wirke wie „die Arbeit eines Kraftfahrzeuglehrlings, der nach der Autoreparatur feststellt, er habe noch etwas vergessen und werde dies beim nächsten Werkstattbesuch nachholen“.
Aber die gewohnten scharfen Attacken auf die Regierungsmitglieder hielten sich diesmal auch bei Meyer in Grenzen. Das könnte, wie in Landtagskreisen gemutmaßt wird, auf die zwangsläufigen Annäherungen von SPD, Grünen und FDP im Bund zurückzuführen sein.
Weil: täglich ein Prozent boostern, 25 Prozent weniger Kontakte
Auch im Regierungslager gab es Auffälligkeiten. Weil konzentrierte seine Regierungserklärung auf mehrere Botschaften: Die Impfverweigerer sollen ein „Gebot des Anstandes gegenüber den Menschen auf den Intensivstationen“ erkennen und sich endlich die Spritze geben lassen. Täglich solle ein Prozent der Bevölkerung die Booster-Impfung erhalten, zudem müssten die Kontakte „um etwa 25 Prozent eingeschränkt werden“. Wenn man das durchalte, „dann haben wir die Situation im Griff.“
Weil kritisierte die Ständige Impfkommission, die sich mit den Empfehlungen – jetzt zur Impfung der Kinder – zu viel Zeit lasse und damit die nötigen Schritte herauszögere. Eine Impfpflicht befürworte er. Seinen in Interviews angeregten Vorschlag, nach Weihnachten eine öffentliche „Ruhepause“ einzulegen, erwähnte der Regierungschef in seiner Rede vor dem Parlament nicht.
Die SPD-Fraktionsvorsitzende Johanne Modder räumte in ihrem Beitrag ein, dass die von der Regierung verhängte 2Gplus-Regel „im ganzen Land Unmut und Unverständnis ausgelöst“ habe. Es sei „Vertrauen verloren gegangen“ und es seien Fehler geschehen – vor allem adressierte Modder diese beim bisherigen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Scharf griff die SPD-Fraktionschefin auch den FDP-Vorsitzenden Stefan Birkner an, der im Oktober einen „Freedom-Day“ gefordert hatte, also eine offizielle Beendigung der Corona-Notlagensituation. „Das Signal war fatal“, sagte Modder.
Toepffer wirft FDP vor, falsches Signal gesetzt zu haben
Noch weitaus schärfer als Modder setzte sich CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer mit der bisherigen Corona-Politik auseinander, auch seine Hauptzielscheibe war die FDP. Dabei klang er streckenweise extrem selbstkritisch. Der Dank an alle möglichen Gruppen, sagte Toepffer, sei „zum parlamentarischen Ritual geworden“. Besser wäre es, über die Frage zu reden, ob die Politiker ihre Arbeit vernünftig erledigt hätten.
Er selbst, bekannte Toepffer, sei „seiner Verantwortung in weiten Teilen nicht nachgekommen“, da er oft gezögert oder dem Druck derer nachgegeben habe, die die Pandemie verharmlost hatten. Er habe mitgeholfen, Ausnahmen von Corona-Regeln zuzulassen, und dies habe die Virus-Verbreitung gefördert. In dem Bemühen, vermeintliche alte Ungerechtigkeiten abzubauen, habe er dabei mitgewirkt, neue zu schaffen. Aber er habe alle Entscheidungen mit bestem Gewissen getroffen.
Toepffer fügte hinzu, dass es falsch sei, die Verantwortung allein bei der Landes- oder der bisherigen Bundesregierung zu suchen. Alle Abgeordneten, auch die der Landtags-Opposition, müssten nach ihrer Mitverantwortung fragen. So sei im Bundestagswahlkampf die Pandemie ausgeklammert worden, und die FDP habe später sogar den „Freedom-Day“ gefordert. Dies habe womöglich eine falsche Sicherheit suggeriert, die dann bei vielen eine gefährliche Sorglosigkeit verstärkt habe. Birkner spiele „mit den Ängsten derer, denen die Schutzmaßnahmen zu weit gehen“.
Noch schlimmer sei aber, dass im 178 Seiten starken Ampel-Koalitionsvertrag für das Thema Corona ganze fünf Zeilen übrig seien – dass die neue Regierung Scholz also die Epidemie völlig ausgeklammert habe. „Das macht uns fassungslos“, betonte Toepffer. Dann sei es nur folgerichtig, dass die Ampel-Koalition die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ aufgehoben hatte – und damit etwa die Rechtsgrundlage für Gaststättenschließungen beseitigt habe.
Fraktionslose zweifeln Impf-Wirkung an
Eine Sonderrolle in der Landtagsdebatte nahmen mehrere Abgeordnete an, die früher zur AfD-Fraktion gehörten. So erwähnten nacheinander Klaus Wichmann, Harm Rykena, Peer Lilienthal, Stefan Henze, Stephan Bothe, Dana Guth und Jens Ahrends ihre Vorbehalte. Die Impfstoffe seien „genmanipulierte, Notfall-zugelassene experimentelle Substanzen“, die für Erwachsene vielleicht hinnehmbar, für Kinder aber bedenklich seien. Guth meinte, „die Hetze gegen Impfgegner“ sei unerträglich. Wichmann sagte, die Ungeimpfte würden zu Sündenböcken gestempelt, es fehle nur noch ein Straftatbestand bei einer Impf-Weigerung im Strafgesetzbuch.
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