Kirchen-Reform: „Wir schaffen die Ortsgemeinde nicht ab“
Stephanie Springer ist Präsidentin des Kirchenamtes der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Seit 2015 ist sie zudem Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, einem der Leitungsgremien der EKD. Im Interview mit Rundblick-Redakteur Niklas Kleinwächter äußerte sie sich zu flexiblen Verwaltungsstrukturen, einer schrumpfenden Kirche und der Möglichkeit von Innovationsräumen.
Rundblick: Frau Springer, eigentlich soll Anfang November die EKD-Synode in Berlin zusammenkommen, um über wichtige Zukunftsfragen der Kirche zu debattieren. Ist das angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens noch möglich?
Springer: Das Präsidium hat lange an der Planung für eine Präsenzveranstaltung festgehalten, wegen der Zukunftsdebatte und auch weil diese Synode ein letztes Mal in ihrer aktuellen Besetzung zusammengekommen wäre. Im Frühjahr konstituiert sich das neue Kirchenparlament. Aber nun hat man sich doch auf eine digitale Veranstaltung verständigt. Vielleicht wird es auch so sein, dass sich an verschiedenen Orten kleine Gruppen von Delegierten versammeln und sich dann gemeinsam zuschalten.
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Rundblick: Auch die politischen Parteien haben lange über solche Formate nachgedacht – zuerst schien es so, als stünden Gesetz und Parteistatut dagegen. Ist die Kirche da besser aufgestellt?
Springer: In unserer Landeskirche haben wir eine rechtliche Grundlage vorbereitet, die bis zur nächsten Landessynode im November in Kraft treten kann. Auf Ebene der EKD gibt es bereits eine neue Verordnung, die ein solches Tagungsformat erlaubt. Wir konnten uns dabei auf ein historisch interessantes Kirchengesetz aus dem Jahre 1967 für „Tagungen in besonderen Fällen“ stützen. Damals waren die ost- und westdeutschen Kirchen noch unter dem Dach der EKD vereint. Als der DDR-Staat mit der politischen Abgrenzung von der Bundesrepublik auch die Ablösung der östlichen Landeskirchen vorantrieb und das 450. Reformationsjubiläum vereinnahmte, wurde mit diesem Gesetz ermöglicht, dass im April 1967 die EKD-Synode zeitgleich auf zwei regionalen Tagungen in Ost und West stattfinden konnte. Leider konnte dies die Entwicklung nicht aufhalten, es war zugleich die letzte gesamtdeutsche Synode bis zur Wiedervereinigung.
Wir sind erstaunlich flexibel, auch mit unserer Verwaltung müssen wir uns nicht verstecken.
Rundblick: Da beweist die Kirche einmal unerwartete Flexibilität.
Springer: Wir sind erstaunlich flexibel, auch mit unserer Verwaltung müssen wir uns nicht verstecken. In den vergangenen Jahren haben wir im Landeskirchenamt ein elektronisches Dokumentenmanagementsystem aufgebaut und wir haben alternierende Telearbeitsmöglichkeiten. Im Frühjahr haben wir binnen Tagen hundert zusätzliche VPN-Anschlüsse gelegt, sodass wir am 19. März während der ersten Corona-Welle das Haus hier symbolisch abschließen konnten. Es waren vielleicht noch 20 Personen da, der Rest konnte problemlos im Homeoffice arbeiten – bei vollständigem Aktenzugriff!
Rundblick: Mehr Flexibilität in den Strukturen fordert auch ein Diskussionspapier, das vom sogenannten Zukunftsteam der EKD erarbeitet wurde. Mit inzwischen zwölf Leitsätzen soll auf sinkende Mitgliedszahlen und ausbleibende Kirchensteuereinnahmen reagiert werden. Welche Botschaft erhoffen Sie sich von dieser Diskussion?
Springer: Ich erhoffe mir einen Impuls der Zuversicht und der Ermutigung. Grundlage der Debatte ist die Freiburger Studie, die uns einen Ausblick darauf gegeben hat, wie sich die Kirche bis 2060 verändern könnte: halb so viele Mitglieder, ein Drittel weniger Kirchensteuereinnahmen. Ich möchte allerdings, dass wir die Veränderungen, die vor uns liegen, nicht angsterfüllt ansehen. Schließlich wissen wir, dass sich die ganze Gesellschaft verändert und verändern muss. Digitalisierung und Individualisierung betreffen alle Bereiche unseres Zusammenlebens.
Die nötigen Veränderungen kann man aber nicht von oben nach unten durchsetzen, wir können die Zukunft nicht von oben verordnen. Es geht vielmehr um eine Kulturveränderung.
Rundblick: Welche konkreten Schritte leiten Sie aus den Ergebnissen der Freiburger Studie ab?
Springer: In unserer neuen hannoverschen Kirchenverfassung bringen wir zum Ausdruck, dass wir eine vielfältige, einladende und lebendige Kirche sein wollen. Das werden wir aber nicht sein können, wenn wir nun angesichts der Prognosen sagen, wir kürzen einfach flächendeckend nach der Rasenmäher-Methode. „Weniger vom Alten“ kann nicht die Lösung sein, wir müssen viele Dinge anders und neu machen. Die nötigen Veränderungen kann man aber nicht von oben nach unten durchsetzen, wir können die Zukunft nicht von oben verordnen. Es geht vielmehr um eine Kulturveränderung. Wir müssen Impulse setzen und gleichzeitig Strukturen schaffen, die Innovationen ermöglichen, und die die Akteure vor Ort dazu ermutigen und ermächtigen und nicht dabei behindern.
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Rundblick: Wie müssten die Strukturen angepasst werden, damit das gelingt?
Springer: Wir wollen Räume schaffen, in denen Zukunft entstehen kann. Ein spannender Ansatz dazu findet sich in den Leitsätzen: Darin wird vorgeschlagen, dass in jedem kirchlichen Haushaltsplan auf allen Ebenen zehn Prozent des Geldes für ein „geistliches Risikokapital“ vorgehalten werden soll. Mit diesem Geld sollen dann innovative Projekte gefördert werden, die über die normale Arbeit hinausgehen. Diese Projekte müssen dann auch scheitern dürfen. So verhindern wir aber, dass wir uns allein auf das Bestehende fokussieren. Was das konkret für die Ressourcenverteilung bedeutet, wissen wir noch nicht, aber ich wäre sehr dafür, dass wir ernsthaft überlegen, wie es gehen könnte.
Ich finde es schade, dass es fast immer geradezu reflexhaft als persönliche Kränkung empfunden wird, wenn jemand etwas Neues vorschlägt, das nicht den eigenen Vorstellungen und Traditionen entspricht. Davon müssen wir wegkommen.
Rundblick: Aber wenn weniger Geld zur Verfügung steht, wird irgendjemand immer das Nachsehen haben. Fürchten Sie einen innerkirchlichen Verteilungskampf?
Springer: Ich finde es schade, dass es fast immer geradezu reflexhaft als persönliche Kränkung empfunden wird, wenn jemand etwas Neues vorschlägt, das nicht den eigenen Vorstellungen und Traditionen entspricht. Davon müssen wir wegkommen. Das bedeutet umgekehrt ja nicht automatisch, dass das, was vor Ort funktioniert, weg muss. Der Apostel Paulus hat das schon vor fast 2000 Jahren geraten: „Prüft aber alles und das Gute behaltet.“ Niemand will die Ortsgemeinden abschaffen, wie Kritiker des EKD-Papiers meinen, nur weil daneben und darinnen neue Formen kirchlichen Lebens unterstützt werden sollen. Dafür müssen dann auch finanzielle Ressourcen bereitstehen. Vielfalt ist auch herausfordernd. Das heißt, wir werden künftig nicht mehr an allen Orten alles anbieten können, sondern Formate dort aufgeben, wo hierfür nicht mehr genügend Unterstützung zu finden ist. Ich selbst singe beispielsweise leidenschaftlich gern in einem Kirchenchor. Wie viele andere habe ich besonders in Pandemie-Zeiten gespürt, wie mir das Singen gefehlt hat. In unserem kleinen Dorf fehlt aber der Nachwuchs und deshalb wird dieser Chor vermutlich mit meiner Generation zu Ende gehen. Und dort ist das dann auch ok, weil an vielen anderen Orten gesungen wird.
Rundblick: Das Zukunftspapier der EKD spricht auch davon, dass die Verwaltung entschlackt werden muss. Sind Fusionen beispielsweise von Kirchenämtern oder Landeskirchen auch eine Option, um künftig Geld zu sparen?
Springer: Fusionen sehe ich derzeit nicht als zielführend an, das bringt überall viele Konflikte und Reibungsverluste. Wir haben in der Vergangenheit bereits unsere Verwaltungsstrukturen zusammengeführt. Auf 48 Kirchenkreise kommen nur noch 22 Kirchenkreisämter – und wir kamen mal von 72 Kirchenkreisen mit je einem Amt! Ich bin vielmehr dafür, dass wir pragmatisch und kleinteilig schauen, wo wir Doppelstrukturen einsparen und Stärken nutzen können. Das gilt für die Kirchenkreise und Gemeinden genauso wie für die EKD und ihre Gliedkirchen. Das EKD-Papier schlägt vor, dass wir überall schauen, wo wir kooperieren können oder wo die EKD oder eine Landeskirche Aufgaben für andere mit übernehmen kann. Schon jetzt wird beispielsweise die Kirchensteuererhebung für alle evangelischen Kirchen in Niedersachsen von der Landeskirche Hannovers koordiniert. Das Predigerseminar in Loccum ist der gemeinsame Ausbildungsort für die vier evangelisch-lutherischen Kirchen in Niedersachsen und die Bremische Evangelische Kirche. Davon wird es künftig mehr geben.