Der Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert sieht keine Alternative zu einer stärkeren Besteuerung der Reichen und zu einer Vermögensteuer. In Zukunft, sagt er, müsse sich der Staat viel stärker als bisher engagieren bei der Weiterbildung, Qualifizierung und Umschulung von Beschäftigten, die nach der Corona-Krise stärker als bisher dem Wandel der Arbeitswelt ausgesetzt sind. Die Rundblick-Redaktion traf Kühnert im traditionsreichen Arbeiterbezirk Hannover-Linden zum Interview.

Foto: nkw

Rundblick: Herr Kühnert, die Corona-Krise bringt eine erhebliche Verschuldung des Staates mit sich – unter anderem auch, weil mit Konjunkturprogrammen die Wirtschaft wieder zum Laufen gebracht werden soll. Ist der bisher eingeschlagene Weg aus Ihrer Sicht richtig?

Kühnert: Die Staatsschuldenquote steigt zwar mit den bisherigen Beschlüssen von 60 Prozent auf etwa 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das ist nicht wenig. Aber wir müssen uns ja die Frage stellen, was denn die Alternative gewesen wäre. Würden wir nicht neue Schulden aufnehmen, könnten Beschäftigte bald nicht mehr in Kurzarbeit gehen, sondern würden arbeitslos. Wir könnten auch die Überbrückungshilfen für viele Firmen nicht aufbringen. Diese Alternative würde also zu weiteren Einbrüchen bei den Steuereinnahmen führen und die finanzielle Basis des Staates somit noch weiter schwächen. Dass wir das nicht wollen, sehen sehr viele so – daher hat es auch eine sehr breite Mehrheit im Bundestag für diesen Weg gegeben. Die extrem niedrigen Zinsen kommen uns zudem entgegen, denn Bund, Länder und Kommunen zahlen derzeit kaum mehr als ein Prozent ihrer Steuereinnahmen für Zinslasten. Wenn die Wirtschaft schnell wieder auf die Beine kommt und das Wachstum sich besser entwickelt als die Zinssätze, dann können wir die Schulden ohne größere Einschnitte wieder abtragen.

Rundblick: Welche Lehren ziehen Sie aus dieser Corona-Krise?

Kühnert: Wir müssen künftig besser vorsorgen. Das fängt ganz banal bei den Schutzmasken und -kitteln an. Viele sagen: Die Herstellung und Lagerung ist ein Kostenfaktor. Ja, das stimmt – aber wenn das Material plötzlich dringend benötigt wird und auf dem Markt nicht schnell zu haben ist, fällt der Hinweis nicht mehr ins Gewicht. Dann müssen Cent-Artikel plötzlich für Milliardenbeträge beschafft werden. Das geht dann weiter mit den Krankenhausbetten, die in einem gesunden Maß auch mal leer stehen können, aber im Notfall eben bereitstehen.

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Rundblick: Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, eine Debatte über mehr Verstaatlichung zu starten?

Kühnert: Das geschieht derzeit ja an einigen Stellen – aber nicht etwa, weil die Beteiligten ein Juso-Wirtschaftsseminar gebucht haben. Eine Biotec-Firma bekommt eine staatliche Beteiligung, damit die Impfstoff-Herstellung nicht monopolisiert wird und im Krisenfall gesteuert werden kann. Ich denke, wir sollten bei den Firmen, die staatliche Hilfen erhalten, mit speziellen Anreizen arbeiten. Sie könnten beispielsweise von einem Teil der Rückzahlung befreit werden, wenn sie mehr Ausbildung gewährleisten, nachhaltiger mit Energie umgehen oder Zukunftstechnologien wie Wasserstoff nutzen. Außerdem muss sich der Staat viel stärker engagieren bei der Weiterbildung, Qualifizierung und Umschulung von Beschäftigten, die nach der Corona-Krise stärker als bisher dem Wandel der Arbeitswelt ausgesetzt sind. Dazu gehört dann auch ein Rechtsanspruch auf Qualifizierung und Weiterbildung.

Rundblick: Grundsätzlich gefragt: Wandelt sich der Kapitalismus – oder wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, das System grundsätzlich zu ändern?

Kühnert: Ich bin skeptisch, wenn in Krisenzeiten solche Debatten geführt werden. Was jetzt geschieht, geschieht aus der Not geboren in einer Ausnahmesituation. Fraglich ist, ob in der Nach-Corona-Zeit das Wirtschaften so weitergeht wie vor der Krise. In vielen Unternehmen merkt man schon, dass sich Handelspartner umorientieren. Das kann eine Triebfeder für technologische Entwicklungen sein. Der Staat wird wieder stärker Aufgaben übernehmen müssen.

Zwei Drittel der DAX-Konzerne bilden nicht über Bedarf aus und wälzen die Verantwortung auf kleine und mittelständische Unternehmen ab.

Rundblick: Glauben Sie denn, dass der Staat in Zukunft so viel wird leisten können, wenn er sich jetzt derart stark verschuldet? Müsste man nicht jetzt einsparen für die nächste Generation?

Kühnert: Bisher hat es ja schon Einsparungen gegeben – nur eben auf eine sehr perfide Art. Wenn beispielsweise in die Infrastruktur nicht mehr ausreichend investiert wurde, wenn 2019 nur ganze sechs Kilometer an neuen Bahnschienen neugebaut wurden. Diese formelle Art des Sparens scheint alles andere als nachhaltig zu sein. Wenn wir es jetzt verpassen, in Infrastruktur zu investieren, werden einfach nur Kosten an die kommenden Generationen weitergegeben. Von der schwarzen Null an sich kann sich ja niemand etwas kaufen. Grundsätzlich: Ich halte nichts davon, die Alten gegen die Jungen auszuspielen. Nach der Finanzkrise waren 50 Prozent der Jobs der jungen Generation befristet, viele 20- bis 30-jährige retteten sich über Kettenverträge. Die gingen damals als erste über die Wupper. Heute kommt es darauf an, prekäre Beschäftigungsverhältnisse generell zurückzudrängen – keine sachgrundlose Befristung, eine Ausbildungsgarantie und eventuell auch eine Ausbildungsplatzumlage. Zwei Drittel der DAX-Konzerne bilden nicht über Bedarf aus und wälzen die Verantwortung auf kleine und mittelständische Unternehmen ab.

Es gehört nicht zur geheimen Mission der SPD-Spitze, die Autoindustrie abzuschaffen.

Rundblick: Eine Autokauf-Prämie lehnte die SPD-Führung ab, das ist im Autoland Niedersachsen auch bei Gewerkschaften nicht auf Beifall gestoßen…

Kühnert: Es gehört nicht zur geheimen Mission der SPD-Spitze, die Autoindustrie abzuschaffen. Ganz im Gegenteil. Die Abwrackprämie damals, nach der Finanzkrise, diente insbesondere dem Abverkauf einer angestauten Produktion. Es muss uns aber heute darum gehen, die Förderung neuer Produktionen zu sichern und langfristige Perspektiven zu eröffnen. Diese werden offenkundig immer weniger mit Verbrennungsmotoren zu tun haben. Deshalb lenken wir zum Beispiel Milliarden in Forschung und Entwicklung. Die Linie der SPD entspricht somit stärker einer Mittelfrist- als einer Kurzfristperspektive. Immer mit dem Ziel, gute Beschäftigung zu sichern.

Rundblick: Noch einmal zu den Schulden: Wer soll denn später mit seinen Steuern dafür aufkommen, wenn starke Einnahmeausfälle finanziert werden müssen?

Kühnert: Wir sind für die Reaktivierung der Vermögensteuer, ein Prozent des Vermögens bei hohen Freibeträgen und einer Bemessung, wie wir sie aus der Erbschaftssteuer kennen. Kaum irgendwo in der westlichen Welt werden Vermögen derart niedrig besteuert wie in Deutschland. Was die Einkommensteuer angeht, sind wir für die Entlastung von mehr als 95 Prozent der Steuerpflichtigen, und für eine stärkere Heranziehung der übrigen knapp fünf Prozent. Es geht um 3 Prozentpunkte ab einem Einkommen von gut 100.000 Euro jährlich für Singles. Das wäre alles keine Revolution, sondern befände sich etwa auf halber Strecke hin zu einer Steuerpolitik, wie es sie in den Zeiten Helmut Kohls gab.