Nicht einmal vier Wochen ist es her, da hat der alte Mann im Rollstuhl seinen Genossen ins Gewissen geredet. Mehr als 200 Gäste waren damals erschienen bei einem Empfang zu Ehren des 90. Geburtstags dieses Politikers, der zwischen den siebziger und neunziger Jahren eine zentrale Figur der niedersächsischen SPD gewesen war. Doch Ravens, der Mann aus Achim (Kreis Verden), der zuletzt in Hannover wohnte, war immer mehr als das – er war eine Art Übervater der Landespartei, jemand, der wie kein zweiter an der Politik gelitten und doch nie die Freude an ihr und an der Arbeit in der SPD verloren hatte. Der Empfang am 11. August wurde zu seinem Vermächtnis. Er hatte damals den Parteifreunden viel zu sagen, und ahnte womöglich schon, dass es seine letzte Möglichkeit dazu war, dass es das letzte Wiedersehen sein würde. Wie gestern bekannt wurde, ist der ehemalige Bundesminister und ehemalige Landesvorsitzende am 8. September gestorben.

Karl Ravens im Gespräch mit Kultusministerin Frauke Heiligenstadt beim Empfang zu seinem 90. Geburtstag vor einigen Wochen. – Foto: KW

Die Nachricht von seinem Tode hat gestern in Hannover Bestürzung ausgelöst. „Die SPD verliert ein Vorbild“, sagte Ministerpräsident Stephan Weil. Geschockt reagierten viele Parteifreunde vor allem auch deshalb, weil die nicht einmal einen Monat zurückliegende Veranstaltung voller Emotionalität war. Sie geschah eine Woche nach dem Übertritt der Grünen-Politikerin Elke Twesten zur CDU, dem folgenden Bruch der rot-grünen Mehrheit im Parlament und dem Beschluss über vorgezogene Neuwahlen. Die SPD spürte damals wieder das Gefühl, ihr sei unrechtmäßig die Macht genommen worden durch Überläufer. Immer dann, wenn dies geschieht, erzählt man sich in der SPD die Geschichte von 1976, als von – bisher unentdeckten – Abgeordneten aus der SPD/FDP-Koalition in geheimer Wahl der CDU-Kandidat Ernst Albrecht zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Das war seinerzeit der Beginn einer 14-jährigen Oppositionszeit der SPD und außerdem einer Welle von Verdächtigungen und Misstrauen unter den Sozialdemokraten, die sehr lange dauerte. Damals war Karl Ravens SPD-Gegenkandidat von Albrecht, er verlor die Wahl im Landtag, außerdem zwei folgende Landtagswahlen als Spitzenkandidat und erlebte die leidvollen Jahre der SPD am eigenen Leib. Seine erste Ehe zerbrach, die hoffnungsvolle Karriere im Bundestag (er arbeitete bis 1976 immerhin als Bundesbauminister) war plötzlich beendet, in der Landespolitik haftete jahrelang das Verlierer-Image an ihm. Trotzdem ließ Ravens sich über die Jahre nicht runterkriegen, er rappelte sich auf, gewann eine neue Partnerin und erschien an jenem 11. August vor den Gästen des Empfangs als jemand, der mit sich im Reinen und für den politisches Engagement selbstverständlich ist. Ein Mann, der kaum noch stehen und sehen konnte, der aber im Geiste topfit war und gestochen scharf formulieren konnte. Todkrank, aber voller positiver Botschaften.

Lesen Sie auch:

Karl Ravens und die geschundene Seele der SPD

 

So trat der 90-jährige Ravens in einer neuen düsteren Stunde der SPD wie ein Hoffnungsträger auf, an dem man sich aufrichten kann. Wenn einer wie er, der das Trauma von 1976 durchstehen musste, derart humorvoll, optimistisch und redselig vor ihnen steht – dann muss die SPD auch die aktuelle schwere Zeit gut bewältigen können. Und er sagte es in seiner einstündigen Rede auch ganz direkt: In der SPD zu sein, sei mehr als nur eine Vereinsmitgliedschaft, es sei eine Lebenseinstellung. Man müsse gradlinig sein und seine Ziele unbeirrt verfolgen. Man müsse den Frieden bewahren und die Menschenwürde, zumal die Würde immer an erster Stelle stehe. Die „sozialdemokratischen Ideale“ seien „immer jung, modern und aktuell“, betonte Ravens und fügte abschließend hinzu: „Was für ein schöner Tag – und wir immer noch dabei.“ Jetzt ist er nicht mehr dabei, und den Ausgang der Wahlen, für die er seinen Genossen viel Kraft wünschte, kann er nicht mehr erfahren.