Der Konflikt nimmt an Schärfe zu: Soll der Landtag als Volksvertretung die Corona-Politik an sich reißen – und künftig selbst über die Verordnungen zur Beschränkung von Grundrechten abstimmen? Wenn die Abgeordneten dies täten, und Grüne und FDP wollen das ja ausdrücklich, dann würde auch die Verantwortung für die Corona-Politik von der Exekutive zur Legislative wandern. Für die Kontaktsperren, die Schließung der Gaststätten und der Sport-Center sowie das Verbot der Volksfeste würde das in der Sache wenig ändern. Die politische Verantwortung für all diese Schritte, die in der Konsequenz für einen starken Wirtschaftseinbruch verantwortlich sind, wäre dann allerdings schon neu geordnet – der Landtag, also die Mehrheitsfraktionen, hätten die Sache an der Backe.


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Die Positionen in dieser Frage sind nun gespalten: Sozial- und Christdemokraten wollen, dass die Corona-Verordnungen weiterhin von der Landesregierung, genauer dem Sozialministerium, verhängt werden. Der Landtag als Parlament soll aber die Möglichkeit erhalten, zu einzelnen Vorgaben bei seinen regelmäßigen Sitzungen Veränderungen zu beschließen – wenn dazu begründete Anträge vorliegen. Grüne und FDP wollen den anderen Weg. Der FDP-Fraktionschef Stefan Birkner schlägt vor, dass der Landtag grundsätzlich die Corona-Verordnungen beschließen soll – oder jede neue Rechtsvorschrift, die vom Sozialministerium erlassen wird, zumindest einen „Zustimmungsvorbehalt“ bekommt.

Das hieße: Sobald der Landtag die Bestätigung verweigern sollte, würde die Verordnung außer Kraft treten. Die Befassung im Parlament könne, wenn Gefahr im Verzuge ist und die Regierung schnell handeln muss, auch nachträglich geschehen, fügte Birkner hinzu. Damit ist die Landespolitik in Niedersachsen vor einen Grundsatzstreit gestellt: Wie weit soll die Mitverantwortung der Volksvertretung in Krisenzeiten wie diesen gehen?

Wer ist am Ende verantwortlich?

Die Debatte beflügelt nun auch den wissenschaftlichen Diskurs, und vor einer Expertenanhörung im neugebildeten Corona-Ausschuss kommenden Montag liegen nun schon die ersten Stellungnahmen vor. Der Göttinger Staatsrechtler Prof. Hans Michael Heinig beispielsweise verweist auf die Risiken, die der von Birkner vorgeschlagene Weg in sich berge: Wenn der Landtag ein Veto-Recht zu den Corona-Verordnungen bekomme, dann könnten am Ende „die Ebenen und Organe des politischen Entscheidens so miteinander verwoben werden, dass Verantwortung deutlich schwerer oder gar nicht mehr adressiert werden kann“.

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Demokratie lebe aber davon, bestimmte Entscheidungsträger für ihr Verhalten haftbar zu machen: „Wähler müssen wissen können, wen sie abwählen müssen, wenn sie eine andere Politik bevorzugen.“ Sobald diejenige Stelle in der Exekutive, die bisher die Verantwortung allein auf ihren Schultern trägt, durch eine Zustimmung des Parlamentes von dieser Verantwortung entlastet wird, könne der eine auf den anderen verweisen – der Minister sagt, das Parlament habe seinen Weg doch abgesegnet, die Parlamentsmehrheit sagt, sie sei doch nur dem gefolgt, was der Minister vorgeschlagen habe. Ein Zuständigkeitschaos wäre die Folge. Irgendwie wären alle und wieder gar keiner verantwortlich.

Mehr Akzeptanz für Politik

Auf der anderen Seite sieht Prof. Heinig schon die Vorzüge einer stärkeren Mitwirkung des Parlaments an der Corona-Krisenbewältigung: Wenn es in der Volksvertretung gelinge, ernsthafte Alternativen zu den Mehrheitsentscheidungen nachvollziehbar darzustellen, dann steige die Akzeptanz der Politik – schon allein dadurch, dass der öffentliche Diskurs über die Schritte wesentlich intensiver geführt würde als bisher.

Der Münchener Verfassungsjurist Prof. Alexander Thiele, in Uelzen geboren, beschreibt zunächst eine Verschiebung der Erwartungen: Viele Menschen hätten anfangs starkes Interesse an einer effektiven Krisenbewältigung gehabt, daher seien sie für eine Stärkung der Exekutive gewesen. Inzwischen aber dauere das Krisenmanagement schon sehr lange, die parlamentarische Beteiligung sei derzeit zu schwach – das drückt sich nach Meinung von Thiele auch in den Kundgebungen der sogenannten „Corona-Leugner“ aus.

Problem der „verdoppelten Exekutive“

Nun seien aber parlamentarische Entscheidungsprozesse von vornherein auf Langsamkeit angelegt – und falsch sei es, betont der Wissenschaftler, wenn das Parlament nun auf irgendeine Weise mit dem Entscheidungsprozess der Exekutive wetteifern sollte. Wollten die Abgeordneten in aller Eile versuchen, die Corona-Verordnungen inhaltlich mitzuprägen und mit der Ministerialverwaltung Schritt zu halten, so komme es am Ende zu einer „verdoppelten Exekutive“. Das könne doch aber nicht Sinn der Sache sein.

Thiele rät dem Parlament also, vielmehr die langfristigen Fragen anzupacken – ob etwa das Versammlungsrecht ausreicht oder nicht so gestrickt werden muss, dass man Demonstrationen in Pandemie-Zeiten besser einschränken kann. Oder ob die Polizei für den Fall der nächsten Pandemie mehr Zuständigkeiten braucht, oder wie die Voraussetzungen für Schulschließungen besser und sattelfest im Schulgesetz formuliert werden können. All das seien die grundlegenden Themen, die ein Parlament beraten und beschließen könne unabhängig davon, welche konkrete Verordnung in der Krisenzeit verschärft, entschärft oder auf andere Weise geändert werden soll.

Ein nennenswerter Mehrwert?

Skeptisch betrachtet auch der Berliner Jurist Christian Johann die aktuelle Debatte. So vorteilhaft es sein könne, dem Wunsch von FDP und Grünen in Niedersachsen zu folgen und die Mitwirkung des Parlamentes an der Corona-Politik zu erhöhen, so fraglich sei auch, ob damit tatsächlich „ein nennenswerter Mehrwert einhergeht“. Es bleibe nämlich dabei, dass der erste Adressat des für den Infektionsschutz zuständigen Bundes die Landesregierungen seien – und nicht die Landtage. Negative praktische Folgen sieht Johann auch für die von den Einschränkungen Betroffenen – also Betreiber von Gaststätten und Geschäften, die schließen mussten, oder auch Vereine und Organisationen, die sich nicht treffen können. Wenn sie die Einschränkungen auf Basis einer Rechtsverordnung hinnehmen müssen, bleibt ihnen der Gang vor die Verwaltungsgerichte.

Wird die Basis aber ein Gesetz, das der Landtag beschließt, dann müssen sie eine Verfassungsbeschwerde einlegen – und in Niedersachsen heißt das, anders als in anderen Ländern, dass man nach Karlsruhe zum Bundesverfassungsgericht gehen muss. Der seit Jahren von verschiedener Seite vorgetragene Gedanke, eine Verfassungsbeschwerde auch für den Staatsgerichtshof in Bückeburg vorzusehen, hat bisher nämlich in der politischen Debatte noch nicht wirklich gefruchtet. FDP und Grüne sind dafür, die Regierungsfraktionen sind es bislang nicht. Da nun aber die Hürden für die Zulässigkeit und Begründungspflicht bei Verfassungsbeschwerden viel höher seien als bei Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, sei es bei einer stärkeren Parlamentsbeteiligung für Betroffene sogar schwerer als bisher, gegen die Auflagen vor Gericht anzugehen, mahnt Johann. (kw)