Die Agrarpolitik bewegt momentan die Gemüter in Deutschland. Das Kastrieren von Ferkeln ohne Betäubung, bisher übliche Praxis, sollte eigentlich zu Beginn des nächsten Jahres verboten werden. Doch die Bauern in der Bundesrepublik fürchten dann Wettbewerbsnachteile gegenüber der ausländischen Konkurrenz. Nun hat die Große Koalition in Berlin entschieden, die Frist noch einmal zu verlängern. Das verärgert die Tierschützer. In einem Pro und Contra widmet sich die Rundblick-Redaktion diesem Thema.

PRO: Vorbereitungszeit war genug, und irgendwann einmal müssen Fakten geschaffen werden. Deshalb sind weitere neue Fristen eher nachteilig für das Ansehen der Politiker, meint Isabel Christian. Und für den Tierschutz ist es fatal.

Fünf Jahre hatten Politik und Schweineindustrie Zeit, sich auf den 1. Januar 2019 vorzubereiten. Es war kein Geheimnis, dass es ab diesem Tag verboten sein würde, Ferkel ohne Betäubung zu kastrieren. Doch passiert ist seit dem Beschluss im Parlament so gut wie nichts. Die Branche hat sich auf die Politik verlassen, die Politik ist davon ausgegangen, dass die Branche sich schon kümmern werde. Jetzt sind beide verlassen. Doch was macht man, wenn man unter Zeitdruck feststellt, dass man für eine Veränderung nicht bereit ist? Man verschiebt die Deadline einfach um zwei Jahre, wie es die Große Koalition im Bund jetzt vereinbart hat. Das mag aus wirtschaftlicher Sicht vernünftig erscheinen, aber es ist ein verheerendes Signal für den Tierschutz: Prinzipiell wollen wir bessere Bedingungen für Schweine, aber besonders wichtig ist es uns nicht. Dann verstoßen wir eben noch zwei Jahre länger gegen das Gesetz, das besagt, Tieren dürfe kein unnötiges Leid angetan werden.

Handel sorgt für Ablehnung durch den Verbraucher

Was die Tiere und auch die Branche wirklich brauchen, ist keine Verlängerung des Status Quo, sondern endlich rechtsverbindliche Wege, wie Tierwohl und Kastration in Einklang gebracht werden können. Lösungen gibt es längst. Zum Beispiel die sogenannte Immunokastration. Dabei wird den Ebern ein Mittel gespritzt, das die Bildung der Geschlechtshormone unterbindet, die schuld daran sind, wenn das Stück Fleisch später in der Pfanne übel zu riechen anfängt. Auch möglich ist es, die Eber einfach Eber sein zu lassen, denn ob der Eber stinkt und sein Fleisch auch, lässt sich in den meisten Fällen schon im Schlachthof feststellen. Dann wird das Tier einfach aussortiert. Dass diese beiden Wege als völlig unpraktikabel gelten, dafür sorgt erfolgreich der Handel. Verbraucher wollten weder stinkendes Fleisch noch welches von Tieren, deren Hormone sich nicht frei entfalten durften, heißt es. Das mag ja sein.

Was aber auch nicht vergessen werden darf: Der Handel und die Schlachthöfe haben dadurch Mehrarbeit, die sie sehr gern vermeiden möchten. Unangenehm riechende Schweine kann eine Maschine nicht erkennen, das muss ein Mensch machen. Der aber muss bezahlt werden. Und Eberfleisch gehört gekennzeichnet und muss anders vermarktet werden als normales Schweinefleisch. Der Verbraucher reagiert zu Recht sauer, wenn er erst beim Kochen merkt, dass ihm Eberfleisch untergeschoben wurde. Wenn er sich bewusst für das (tatsächlich) recht kleine Risiko entscheiden kann, dürfte sich seine Empörung in Grenzen halten. Zahlreiche Umfragen bestätigen es immer wieder: Der moderne Konsument hat nahezu keine Ahnung, wie das Schweinefleisch auf seinem Teller entstanden ist. Hier besteht dringender Aufklärungsbedarf, der sich auch in kurzer Zeit umsetzen lässt, ebenso wie Kampagnen zum Eberfleisch.

Für den „vierten Weg“ müssen Gesetze geändert werden

Dann wäre da noch der sogenannte „vierte Weg“. Er würde es den Landwirten erlauben, nach einer Schulung durch den Veterinär des Vertrauens selbst die Betäubungsspritze ansetzen zu dürfen, bevor dem Ferkel der Hoden abgeschnitten wird. In Dänemark ist das schon gängige Praxis. In Deutschland müssten allerdings das Arzneimittel- und das Tierschutzgesetz geändert werden, um auch nur einen Pilotversuch zu starten. Tierarztverbände sind dagegen, vor allem weil sie befürchten, dass dann die Hemmschwelle auch bei anderen Tierarten fällt und irgendwann das Frauchen ihre Katze selbst kastrieren könnte. Doch unter der Hand erfährt man von Tierärzten aus der Landwirtschaft, dass die ganz froh wären, wenn der Bauer seine Ferkel selbst betäuben würde. Denn bei einem Stall mit tausend Ferkeln ist man eine ganze Weile beschäftigt. Zumal Landwirte in der Regel durchaus in der Lage sind, ihre Tiere auch medizinisch zu behandeln. Und mal ehrlich: Eine nur zur Hälfte wirkende Betäubung ist immer noch besser als gar keine, wie es zurzeit Praxis ist.

Drei Möglichkeiten stehen also zur Auswahl, für die man keine zwei Jahre braucht, um sie umzusetzen. Es ist also nicht glaubwürdig für den Tierschutz, wenn man der Branche, die sich selbst bisher so gut wie gar nicht gekümmert hat, nochmal zwei Jahre Zeit gibt, um jetzt endlich mal Lobbyarbeit für den von ihnen gewünschten Weg macht. Statt mehr Zeit braucht es mehr Druck. Druck auf die Lebensmittelkonzerne und die fleischverarbeitenden Betriebe, ihren Kunden das Eberfleisch schmackhaft zu machen. Und Druck auf die Politik, endlich die gesetzlichen Grundlagen für den „vierten Weg“ zu schaffen. Die Glaubwürdigkeit leidet allerdings, wenn einmal gesetzte Fristen immer weiter hinausgeschoben werden.

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CONTRA:  Der Tierschutz ist eines der Themen, über die in Deutschland gern emotional diskutiert wird. Das hilft aber nicht weiter, denn die Landwirtschaft ist nicht zuletzt auch ein wichtiger Wirtschaftszweig, der geschützt werden muss, meint Klaus Wallbaum.

Die Empörung kann man ja verstehen. Seit fünf Jahren war klar, dass von Anfang 2019 an die betäubungslose Kastration von Ferkeln verboten sein würde. Also hatten sie alle Zeit, sich darauf einzustellen: die Landwirte, die wie jede andere Branche ständig schauen müssen, wie sie mit neuesten Verfahren und Innovation am besten am Markt bestehen können, ebenso wie die Politiker, die berufen sind, für die heimischen Bauern die besten Bedingungen zu schaffen. Passiert ist wenig, denn wie so oft haben alle Beteiligten abgewartet und gehofft, die gesetzliche Vorgabe werde sich schon irgendwie in Luft auflösen. Seit kurzem sieht es so aus, als komme das so. Die Koalitionsspitzen von Union und SPD in Berlin haben sich verständigt, das Verbot noch mal um zwei Jahre herauszuschieben – auf Anfang 2021. Noch ist das nicht Gesetz, aber es dürfte so kommen.

Fristen zu verschieben ist menschlich

Ist das nun die schwere Niederlage für den Tierschutz? Zeigt die Politik hier wieder einmal ihr totales Versagen? Ist das blamabel und löst Politikverdrossenheit aus? Dreimal nein.

Politik funktioniert nun mal so, und zwar schon seit Generationen. Wenn es gesetzliche Fristen gibt, die Menschen zur Änderung ihres Verhaltens bewegen sollen, erleben wir diese Situation immer wieder: Kurz vor Erreichen des Stichtages herrscht große Aufregung, dann wird die Frist noch einmal verschoben. Das ist zwar ärgerlich, aber menschlich (oder anders ausgedrückt: politisch) – denn natürlich widerspricht das Verbot der betäubungslosen Kastration den Interessen der deutschen Schweinehalter, da es im Endeffekt ihre Produktion verteuert. Der Vorwurf, dass man in den fünf Jahren nicht genug zur Entwicklung neuer Methoden getan hat, trifft sicher zu. Aber das gilt nicht nur für Politiker und Landwirte, sondern auch für die Wissenschaft und für die Teilnehmer an der öffentlichen Debatte.

Die armen Schweine? Natürlich ist es wichtig, dem Tierschutz mehr Bedeutung zu verleihen – zumal immer deutlicher wird, dass die Ferkel bei der Kastration tatsächlich Schmerz empfinden. Die neue Übergangsfrist, die sich jetzt andeutet, ist trotzdem sinnvoll. Denn es geht um den Wettbewerb und die völlig berechtigte Sorge, dass eine Verteuerung der Schweine (wegen der Tierarztkosten für die Kastration mit Betäubung) die deutschen Produzenten aus den internationalen Handelskreisläufen verdrängen – zugunsten von ausländischen Billigimporten mit noch geringeren Tierschutzstandards.

Ebermast ist aufwendiger und teurer

Was ist jetzt also zu tun?

Erstens muss geprüft werden, inwieweit der Verzicht auf die Kastration der Ferkel eine Alternative wäre. Die sogenannte „Ebermast“ ist aufwendiger – und man muss genau prüfen, welche Tiere einen unangenehmen Eigengeruch entwickeln und nicht geschlachtet werden sollen. Hier ist auch die Forschung gefordert, über die Gen-Erkennung womöglich frühzeitig feststellen zu können, bei welchen Tieren sich für die spätere Schlachtung eignet und bei welchen nicht. Natürlich wäre dieser Weg der beste, weil er auf Kastration verzichtet. Aber ob er sich lohnt und wirtschaftlich sein kann, muss genau untersucht werden.

Zweitens kommt die Impfung der Eber in Betracht. Mit ihr wird die Produktion von Sexualhormonen im Hoden der Tiere unterdrückt, damit entwickeln sie später nicht den unangenehmen Eber-Geruch. Experten meinen, diese Methode wirke sich keinesfalls negativ auf die Fleischqualität aus – aber „die Akzeptanz beim Konsumenten“ könne ein Problem werden. Womöglich ist die Angst vor Folgen für den Menschen irrational und dauerhaft, womöglich aber kann auch mehr Forschung solche Sorgen zerstreuen.

Drittens ist auch eine Kastration unter lokaler Narkose ein möglicher Weg. Solange dafür jedes Mal ein Tierarzt gerufen werden muss, sind die Kosten vermutlich so hoch, dass sich ein wirtschaftlicher Betrieb der Schweineproduzenten nicht mehr lohnt. Warum lässt man nicht die Bauern selbst die Spritze mit dem Betäubungsmittel setzen? Die Tierärzte lehnen sich dagegen verständlicherweise auf, weil sie um ihren Berufsstand fürchten. Das kann man zwar verstehen, es ist aber nicht durchweg überzeugend, denn niemals kann ein Bauer über den Sachverstand eines Tierarztes verfügen, das weiß er auch.

Schonfrist muss genutzt werden

Die Quintessenz kann also nur sein: Die beiden Jahre Schonfrist, bis das Verbot der betäubungslosen Ferkel-Kastration eintritt, sollten die Politiker, die Bauernverbände, die Agrarwissenschaftler und die Veterinäre nutzen für neue Konzepte, vertiefte Analysen und vor allem für Überzeugungsarbeit. Ein Grundsatz darf dabei indes nicht ausgeklammert werden: Es geht auch darum, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Schweinehalter zu erhalten.

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