„Im Netz hat sich eine türkische Wutbürgerschaft herausgebildet“
Belit Onay ist ein türkischstämmiger Politiker im Landtag – und er hat sich intensiv mit dem Referendum befasst, das Staatspräsident Erdogan mehr Macht bescheren soll. Der Grünen-Politiker äußert sich im Gespräch mit der Rundblick-Redaktion.
Rundblick: Herr Onay, haben Sie mit diesem Ausgang des Referendums in der Türkei gerechnet?
Onay: Nein, ich bin überrascht, dass es so knapp geendet hat. In den vergangenen Wochen habe ich viele Kontakte geknüpft zu Menschen in der Türkei, ich habe mich intensiv mit den Vorgängen dort befasst – und ich muss sagen: Der Wahlkampf vor allem in der Türkei ist alles andere als fair verlaufen. Die Regierungspartei AKP hat eine unglaubliche Wahlkampfmaschinerie in Gang gesetzt, sie hat viel Geld eingesetzt – und die Gegner der von Staatspräsident Erdogan geplanten Verfassungsreform hatten nicht einmal ansatzweise vergleichbare Möglichkeiten, ihre Haltung darzulegen. Dass unter solche Bedingungen nur eine knappe Mehrheit für Erdogans Kurs stimmt, finde ich bemerkenswert.
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Rundblick: Kann man sagen, dass der aufgeklärte Teil der Bevölkerung in der Türkei bevorzugt mit Nein gestimmt hat – und dass diese Menschen eher in den Städten zuhause sind?
Onay: Das Problem ist eher gewesen, dass überhaupt nicht über die Inhalte der von Erdogan geplanten Reform debattiert wurde. Der Wahlkampf konzentrierte sich stärker auf die Frage, ob man dem Staatspräsidenten und seiner Politik Gefolgschaft leisten wollte oder nicht. Es wurden, gerade angestachelt von der AKP, jede Menge Stellvertreterdebatten geführt – etwa darüber, dass das „böse Ausland“ sich einmische und Erdogan bremsen wolle. An die Stelle von Argumenten sind Emotionen getreten – und Erdogan hat verstanden, diese geschickt für sich zu nutzen.
Rundblick: Aber in den Großstädten wie Istanbul war eine Mehrheit gegen die Verfassungsänderung…
Onay: In den urbanen Räumen, in denen mehr Bildungsbürger wohnen, ist die Skepsis größer gewesen als auf dem Lande. Das zeigt sich in diesem Ergebnis, und das ist aus meiner Sicht ein ganz auffälliges Signal: Bisher konnte sich Erdogan auf Unterstützer in den Zentren des Landes verlassen. Doch mehr und mehr zeigt sich, dass seine Politik der wachsenden Abschottung von der EU der Türkei wirtschaftlich nicht bekommt. Die ökonomischen Probleme wachsen – und immer mehr Menschen beginnen zu zweifeln, ob Erdogans Politik noch richtig sein kann.
Rundblick: Was hätte die Opposition in der Türkei anders machen müssen, um erfolgreicher zu sein?
Onay: Ich glaube, dass die Möglichkeiten der Opposition sehr beschränkt waren. Ihr fehlen die Kraft, die Führungspersonen und die Strategien, um auf Erdogan zu antworten. Noch etwas anderes kommt hinzu: Seit etwa drei bis vier Jahren lebt die Türkei in permanenter Unruhe. Da ist der Syrien-Konflikt, da ist der internationale Terrorismus – und da sind die heftigen innenpolitischen Diskussionen. Erdogan hat sich im Wahlkampf als der starke Führer dargestellt, der Ruhe und Geborgenheit verspricht – und viele haben sich davon beeindrucken lassen. Manche hatten vielleicht auch noch das Bild der AKP aus den Jahren 2003 bis 2008 vor Augen, als die Partei einen halbwegs liberalen Kurs gefahren ist. Dass mit dem Referendum dieser Staat sich jetzt auf dem Weg in eine Einparteiendiktatur befindet, war vielen gar nicht bewusst.
Rundblick: In den Wahlergebnissen der in Deutschland lebenden Türken ist das Ja-Lager noch stärker als in der Türkei selbst. Worauf führen Sie das zurück?
Onay: Zunächst ist festzuhalten, dass hierzulande rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben, 1,4 Millionen sind wahlberechtigt – und von denen haben 400.000 abgestimmt. Wenn man das in prozentuale Anteile übersetzt, haben 14 Prozent der Türken in Deutschland für Erdogans Pläne gestimmt – und 8,5 Prozent dagegen. Das sind immer noch sehr viele, aber auch hier vermute ich, dass ein großer Teil derer, die abgestimmt haben, gar nicht ihre Meinung zu der Sachfrage ausdrücken wollten. Natürlich gibt es einige, vor allem ältere, die überzeugte türkische Nationalisten sind. Viele jüngere haben eine Chance gesehen, ihren Frust in Deutschland auszudrücken. Sie haben Zurückweisung, Abgehängtsein und Ablehnung erlebt – und wenn nun Erdogan erscheint, der in den deutschen Medien überwiegend abgelehnt wird, dann nehmen sie diese Provokation auf und sind erst recht für ihn. Das ist vergleichbar mit den Pegida-Auftritten in Ostdeutschland oder mit den Putin-Anhängern unter den Russlanddeutschen hierzulande.
Rundblick: Wie sollte man auf diese Erscheinungen reagieren?
Onay: Wichtig sind aus meiner Sicht zwei Dinge: Erstens müssen wir den Türken in Deutschland sagen, dass wir hier ihre Probleme lösen müssen, nicht der Staatspräsident in der fernen Türkei. Dies ist unsere Gesellschaft und damit auch die Gesellschaft der hier lebenden Türken. Diese Gruppe steht nicht neben den Deutschen, sie lebt mitten unter ihnen – und sollte auch einbezogen werden. Das gilt beispielsweise für das Recht, an Kommunalwahlen teilzunehmen. Zweitens geht es darum, auch den Türken die Besonderheiten unseres demokratischen Systems nahezubringen – Gewaltenteilung, Menschenrechte, Minderheitenschutz und Unabhängigkeit der Justiz. Wir können nur erwarten, dass die Türken in Deutschland das zu schätzen wissen, wenn wir sie auch als vollwertige Glieder unserer Gesellschaft anerkennen.