Die Entscheidung des britischen Unterhauses, die zwischen der EU und der Regierung in London ausgehandelten weichen Bedingungen für den Ausstieg Großbritanniens aus der EU abzulehnen, hat die niedersächsische Landespolitik in Alarmstimmung versetzt. „Das alles hinterlässt ein Gefühl der Ratlosigkeit, ich bin sehr betroffen“, sagte die Europaministerin Birgit Honé (SPD) gestern. Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) erklärte, das Unterhaus-Votum verursache Unsicherheit, und die sei für die auf Planung angewiesenen Unternehmen bitter. Er rate allen Firmen, sich jetzt möglichst rasch auf die schlechteste aller Möglichkeiten, einen „harten Brexit“ einzustellen. Das bedeute, dass von Ende März an der freie Warenverkehr mit Großbritannien nicht mehr ungehindert läuft und viele Zölle und Kontrollen vereinbart werden müssen.

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Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hatte unmittelbar nach der Abstimmung in London erklärt, die Entwicklung im Nachbarland habe auch mit Populismus zu tun: Verschiedene Akteure hätten vor dem Brexit-Referendum Unwahrheiten und Schauermärchen über Europa verbreitet, das habe die gewünschte Wirkung erzielt. „Nationalismus und Separatismus führen in eine Sackgasse“, hob der Ministerpräsident hervor.

Großbritannien drittgrößter Handelspartner für Niedersachsen

Europaministerin Honé erklärte, mit dem Nein des Unterhauses zu dem von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Kompromiss habe sich die Gefahr eines harten, also unkontrollierten Austritts aus der EU vergrößert. Niemand wisse derzeit, ob es so weit komme – oder ob doch noch überraschende Entwicklungen die Lage veränderten. Sie sehe nun mehrere Optionen. Die erste sei der harte Brexit mit der Folge erheblicher Handelsbeschränkungen zwischen Niedersachsen und Großbritannien. Das Vereinigte Königreich ist derzeit drittgrößter Handelspartner Niedersachsens (nach den Niederlanden und Frankreich), das Handelsvolumen liegt bei 9,9 Milliarden Euro. In Großbritannien arbeiten 125 niedersächsische Firmen mit 18.000 Beschäftigten.

Als zweite Variante sieht Honé die Chance, dass May noch kleinere Zugeständnisse der EU erreicht und bei einer zweiten Abstimmung am 31. Januar dann doch eine Mehrheit für das Abkommen im Unterhaus erreicht. Als dritte Variante komme in Betracht, dass wegen Handlungsunfähigkeit der Regierung das Londoner Parlament die Geschicke selbst in die Hand nehme, das Austrittsdatum um einige Monate verschiebe oder eine Notlösung mit der EU vereinbare – beispielsweise eine „permanente Zollunion“. Viertens wäre ein neues Referendum, womöglich verknüpft mit Neuwahlen, eine denkbare Variante. In diesem Fall müsste Großbritannien dann wohl – entgegen bisheriger Pläne – an den Europawahlen Ende Mai teilnehmen.

Auf jeden Fall drohten die in Niedersachsen lebenden Briten ihre Rechte auf freie Wahl des Wohnortes und des Arbeitsplatzes in der EU zu verlieren, möglicherweise müssten sie dann künftig Aufenthaltsvisa beantragen, die regelmäßig verlängert werden müssen. Das könne man nur umgehen, wenn die Betroffenen den Weg der doppelten Staatsbürgerschaft gehen und auch einen deutschen Pass beantragen. 2016 hatten das 81 Briten in Niedersachsen getan, 2017 waren es 161 Briten, 2018 dann 241 Briten. Insgesamt leben 8229 Bürger aus Großbritannien in Niedersachsen. Besondere Schwierigkeiten drohten bei der Hochseefischerei, wenn diese nicht mehr in britischen Gewässern tätig werden kann.

Womöglich könnten aus einem EU-Fonds Ausgleichsleistungen gewährt werden. Althusmann befürchtet, dass bei der Einführung von Zoll-Pflichten die Grenzkontrollen deutlich länger dauern, dass der dem Bundesfinanzministerium unterstellte Zoll deshalb zusätzliches Personal bereitstellen müsse und die Belastung vor allem in den Häfen – so in Cuxhaven und Emden – zunehmen werde. Die Unternehmen in Niedersachsen sollten verstärkt ihre Zertifikate, Lizenzen und Produktionsprozesse auf ihre Gültigkeit und Verträglichkeit mit dem Handeln überprüfen. Im Wirtschaftsministerium wurde Niels Kämpny, Leiter der Industrieabteilung, zum Brexit-Beauftragten bestellt.

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