Handwerksbetriebe berichten: Nur ein Viertel der Lehrlinge bleibt später nicht im Betrieb
Am Montagmorgen geht es nicht gleich auf die Baustelle, sondern erstmal zum gemeinsamen Fitnesstraining: Mobilisierung, Rückenübungen, Tabata. Wer möchte, kann ein Auslandspraktikum machen oder seine Kreativität auf den Social-Media-Kanälen des Unternehmens ausleben. Und wer Sorgen hat, kann eine psychologische Beratung in Anspruch nehmen. Das Unternehmen „Roter-Kältetechnik“ lässt sich einiges einfallen, um Auszubildende und Beschäftigte an sich zu binden. Mit Erfolg: Diesen Sommer starten vier junge Leute ihre Ausbildung bei dem mittelständischen Unternehmen in Garbsen bei Hannover. Damit gehört Roter zu der erfolgreichen Hälfte der Handwerksbetriebe in Niedersachsen: Wie die traditionelle Ausbildungsumfrage der Landesvertretung der Handwerkskammern (LHN) in diesem Sommer zeigt, sind nur in jedem zweiten Betrieb, der ausbildet, alle Plätze besetzt. 35 Prozent rechnen damit, dass sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern wird. „Wir sind ein starker Player auf dem Ausbildungsmarkt“, sagt Hildegard Sander, Hauptgeschäftsführerin der LHN. 32 Prozent aller Ausbildungsverträge werden im Handwerk abgeschlossen, der Rückgang ist hier weniger stark als in der übrigen Wirtschaft. „Aber wir brauchen noch mehr Nachwuchs.“ Der Bedarf an Handwerkerleistungen bleibt weiterhin groß. Lediglich der Neubausektor schwächelt, wie die Umfrage unter 1368 Betrieben ergeben hat.
Überrascht war Sander davon, wie hoch die Verbleibquote ist: Nur ein Viertel der jungen Leute verlassen den Betrieb nach der Ausbildung. „Wir bieten Stabilität, Sicherheit und Verlässlichkeit“, wirbt LHN-Vorsitzender Eckhard Stein. Von denen, die innerhalb von fünf Jahren nach dem Abschluss den Betrieb verlassen, wechseln 36 Prozent zu einem Mitbewerber und 29 Prozent in die Industrie. Nur zehn Prozent nehmen ein Studium auf und neun Prozent qualifizieren sich in Vollzeit zum Meister weiter. „In der Industrie lockt das Geld“, sagt Hildegard Sander: Hier wird für den gleichen Abschluss besser bezahlt. „Aber viele kehren auch wieder zurück, denn Geld ist nicht alles.“ Besonders bemerkenswert: Nach dem Studium kehren auch elf Prozent der Graduierten wieder in den alten Betrieb zurück. In dem familiären Betriebsklima im Handwerk entstehen häufig lebenslange Bindungen. „Roter-Kältetechnik“ schafft es sogar, neunzig Prozent der Auszubildenden zu halten. „Es könnte nicht besser sein“, bestätigt Benedict Kügler, der gerade ins zweite Lehrjahr gestartet ist. Besonders gut findet er, dass es eine eigene kleine Auszubildenden-Werkstatt gibt. Hier kann er jederzeit einen Übungstermin mit dem Ausbildungsbeauftragten vereinbaren, wenn etwas auf der Baustelle noch nicht klappt.
Eckhard Stein ist überzeugt: „Für jeden jungen Menschen gibt es Chancen im Handwerk.“ Auch wenn die Betriebe oft nicht zufrieden sind mit den Vorkenntnissen, die die Jugendlichen aus der Schule mitbringen: „Wir bessern nach.“ Die Umfrage zeigt, dass gute Schulnoten heute keine Voraussetzung mehr sind, um den gewünschten Ausbildungsplatz zu bekommen. 80 Prozent der Betriebe finden Zensuren weniger wichtig, acht Prozent sogar überhaupt nicht. Stattdessen wünschen sie sich Lernbereitschaft und Teamfähigkeit. Erst an dritter Stelle folgen grob- und feinmotorische Fähigkeiten. „Uns ist eine intrinsische Motivation wichtig“, beschreibt Timm Krögler, Geschäftsführer bei „Roter-Kältetechnik“. Unentschuldigte Fehltage sind da problematischer als eine schlechte Zensur. Auch sollte zumindest ein Interesse für Physik und Chemie vorhanden sein. Nötig, räumt Hildegard Sander ein, sind in der Regel Grundkenntnisse der deutschen Sprache. „Die Jugendlichen müssen nicht nur auf der Baustelle, sondern auch im Kundengespräch und in der Berufsschule klarkommen“, gibt sie zu bedenken. Die große Zahl von Meister-Absolventen mit ausländischen Wurzeln zeigt für sie: „Wir können Integration.“ Voraussetzung ist allerdings auch hier die deutsche Sprache. An die Politik richtet die LHN zwei Forderungen: Ab der Grundschule soll flächendeckender und benoteter Werkunterricht stattfinden. Aus Sachsen-Anhalt sollte Niedersachsen die Idee einer Praktikumsprämie übernehmen. Dort kommen Schüler, die in den Ferien freiwillig ein Praktikum machen, 120 Euro. „Die Summe könnten wir auch selbst tragen“, sagt Sander. Unbezahlbar allerdings ist der Werbeeffekt einer landesweiten Kampagne.
Dieser Artikel erschien am 01.08.2024 in der Ausgabe #128.
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