Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock fordert eine radikale Staatsreform
Aus Sicht der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ist Deutschland nicht gut genug auf Krisen vorbereitet. Sie fordert ein umfassendes Reformpaket – und sieht dabei den Bund stärker als bisher in der Pflicht, auch in der Bildungspolitik. Eine Zentralstelle solle eingerichtet werden, damit die länderübergreifende Zusammenarbeit beim Katastrophenschutz – also beispielsweise bei Flutkatastrophen – verbessert wird. Baerbock äußerte sich im Interview mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick.
Rundblick: Mit der Corona-Krise ist viel Vertrauen in der Bevölkerung gegenüber der Politik verloren gegangen. Was sind die Gründe dafür – und welche Schritte sind aus Ihrer Sicht vordringlich, um neues Vertrauen aufzubauen?
Baerbock: Corona hat gezeigt, dass der Staat, dass unser Land in vielen Bereichen nicht gut vorbereitet ist auf Krisen. Ob in der Verwaltung, in den Gesundheitsämtern, an den Schulen oder bei der Digitalisierung: Die Regierung hat es vielfach versäumt, zu modernisieren und eine Infrastruktur aufzubauen, die auf Herausforderungen schnell und effektiv reagieren kann. Stattdessen handelt die Regierung häufig zu spät, reagiert, statt das Steuer in die Hand zu nehmen. Das hat die Flutkatastrophe in Westdeutschland auf tragische Weise verdeutlicht. Und das zeigt sich auch jetzt beim chaotischen Krisenmanagement in Afghanistan. Dieses Hinterherlaufen können wir uns nicht mehr leisten. Angesichts der großen globalen Herausforderungen braucht es eine Regierung mit Weitblick, die Verantwortung übernimmt.
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Rundblick: Nennen Sie doch bitte mal drei Schwerpunkte…
Baerbock: Ich bemerke, dass in der Pandemie viele Menschen das Gefühl hatten, im Regen stehen gelassen zu werden – Familien, Kinder, Menschen in den systemrelevanten Berufen. Deswegen müssen wir erstens tun, was wir können, um die Pandemie einzudämmen, indem wir die Impfquote in Deutschland erhöhen und auch dafür sorgen, dass mehr Menschen weltweit rettenden Impfstoff erhalten können. Und wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Unterricht sicher möglich ist und kein weiteres Schuljahr der Pandemie zum Opfer fällt. Zweitens setzen wir uns für mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland ein und stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das heißt eben auch, dass Pflegekräfte endlich fair entlohnt werden. Außerdem wollen wir den Mindestlohn erhöhen und Geringverdiener entlasten. Drittens wollen wir eine Modernisierungsoffensive starten, Staat und Verwaltung digitalisieren und effizienter machen. Das gilt für die Gesundheitsämter genauso wie fürs Bürgeramt. Damit erleichtern wir nicht nur den Angestellten ihren Berufsalltag, sondern machen den Kontakt zur Verwaltung auch für Bürgerinnen und Bürger komfortabler.
Rundblick: Brauchen wir aus Ihrer Sicht eine Überprüfung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern? Welche drei Projekte würden Sie in diesem Zusammenhang vorrangig anpacken?
Baerbock: Wir brauchen auf alle Fälle ein besseres Miteinander zwischen Bund und Ländern. Ich denke da als erstes an die Bereiche Bildung, Katastrophenschutz und Daseinsvorsorge. Bei der Bildungsfinanzierung haben wir jetzt gesehen, dass der Bund viel mehr Verantwortung übernehmen muss, wenn wir in den Bereichen Gebäude, Digitalisierung und Schulen in benachteiligten Stadtteilen oder Kommunen vorankommen wollen. Für mehr Bildungsgerechtigkeit braucht es unter anderem eine Neuverständigung zwischen Ländern und Bund, wie Bundesgelder im Bildungsbereich bedarfsgerechter und nachhaltiger verteilt werden können. Beim Katastrophenschutz ist eine länderübergreifende Zusammenarbeit wichtig, wenn wir es mit Krisen wie etwa Extremwetterereignissen, Waldbränden und Fluten zu tun haben, die sich ja nicht an die Landesgrenzen halten. Deswegen schlagen wir eine Zentralstelle beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz vor, die wirklich auf solche Situationen vorbereitet ist und in länderübergreifenden Katastrophenfällen dann auch schnell handlungsfähig ist. Und wir brauchen handlungsfähige Kommunen, die in die Infrastrukturen des Zusammenlebens wie Schulen, schnelles Internet, Bus und Bahn investieren können. Dafür wollen wir eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Daseinsvorsorge“ im Grundgesetz verankern, damit Bund und Länder gemeinsame Aufgaben gemeinsam übernehmen.
„Erfahrungen aus Planungsprozessen haben gezeigt, dass die frühzeitige Einbindung der Bürger vor Ort in der Regel dazu führt, dass Projekte schneller und besser abgeschlossen werden können.“
Rundblick: Sind unsere parlamentarischen Abläufe noch zeitgemäß – oder brauchen sie eine Reform oder Ergänzung? Wird mit dem „Bürger-innen-Rat“, den sie in ihrem Wahlprogramm vorschlagen, nicht das Prinzip der repräsentativen Politik ausgehöhlt?
Baerbock: Demokratie ist lebendig und entwickelt sich weiter. Wir müssen die demokratischen wie auch die parlamentarischen Verfahren stärken und an einigen Stellen verbessern. Ich erlebe vielfach, dass Bürgerinnen und Bürger sich mehr einbringen möchten, ein Bedürfnis nach Mitsprache und Beteiligung haben. Das finde ich großartig und wir sollten das nutzen. Wir schlagen dafür Bürger-innen-Räte vor, in denen Bürger über konkrete Fragestellungen beraten und so ihre Alltagserfahrungen in die Gesetzgebung einbringen können. Bürger-innen-Räte gehen der parlamentarischen Entscheidung voraus und haben sich in anderen Ländern bereits bewährt. Gleichzeitig ist es wichtig, den Bundestag als zentralen Ort für öffentliche Debatten und Entscheidungen unserer Demokratie zu stärken und seine Arbeitsfähigkeit sicherstellen. Daher schlagen wir eine Verkleinerung des Bundestags vor.
Rundblick: Sie sprechen sich in Ihre Wahlprogramm für eine Beschleunigung von Bauplanungen und Genehmigungsverfahren aus. Besteht nicht die Gefahr, dass über einen solchen Weg die Bürgerbeteiligung eingeschränkt wird (etwa beim Bau neuer Windräder)? Wie können Sie dieses Dilemma auflösen?
Baerbock: Das Gegenteil ist der Fall: Erfahrungen aus Planungsprozessen haben gezeigt, dass die frühzeitige Einbindung der Bürger vor Ort in der Regel dazu führt, dass Projekte schneller und besser abgeschlossen werden können. Derzeit dauert es oft zu lange, Projekte zu realisieren, Investitionsmittel fließen nicht ab. Deswegen ist unser Ziel, alle Planungs- und Umsetzungszeiten zu halbieren. Dafür schaffen wir mehr öffentliche Planungskapazitäten, binden Bürger frühzeitig ein, bündeln Verfahren und starten auf allen Ebenen eine Personaloffensive in Planungsbehörden und zuständigen Gerichten. Gerade beim Ausbau der Erneuerbaren Energie brauchen wir eine massive Beschleunigung, damit wir auf den 1,5 Grad Pfad kommen und das Pariser Klimaziel einhalten.
„Ich will, dass jedes Kind schwimmen lernen kann. Das ist nicht nur gesund, sondern im Zweifel auch lebensrettend.“
Rundblick: Sie machen sich für ein Investitionsprogramm stark. Bei Ihrem Wahlkampfauftritt in Hildesheim am 9. August haben Sie sich dafür ausgesprochen, dass neue Schwimmbäder gebaut werden sollen. Besteht nicht die Gefahr von Fehlinvestitionen mit überhöhten Folgekosten – so wie es in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war, als kurz vor der Gebietsreform überall neue Hallenbäder und Freibäder errichtet wurden, die anschließend oft gar nicht angemessen genutzt wurden?
Baerbock: Die Situation ist heute doch eine komplett andere. Bei den ungefähr sechseinhalbtausend Schwimmbädern in Deutschland besteht ein Sanierungsbedarf von schätzungsweise fünf Milliarden Euro. Schon vor der Corona-Krise hat die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft davor gewarnt, dass die Zahl der Nichtschwimmer und der Kinder, die nicht mehr schwimmen lernen, stetig steigt. Auch deshalb, weil immer mehr Bäder geschlossen werden. Das dürfte in den vergangenen anderthalb Jahren, in denen die noch vorhandenen und funktionstüchtigen Bäder die meiste Zeit geschlossen waren, noch drängender geworden sein. Ich will, dass jedes Kind schwimmen lernen kann. Das ist nicht nur gesund, sondern im Zweifel auch lebensrettend. Mit einem Bundesprogramm zur Sanierung und Instandsetzung von Schwimmstätten wollen wir genau das erreichen.