Die Empörung ist groß, und sie ist parteiübergreifend: Der Landtag hat am Dienstag auf Antrag der SPD über die jüngsten Demonstrationen von Gruppierungen gegen die Corona-Auflagen diskutiert. Am Wochenende waren zehntausende Menschen ohne Mundschutz und ausreichenden Abstand durch die Innenstadt von Leipzig gezogen, anschließend wurde heftige Kritik am Polizeieinsatz laut – vor allem daran, dass die Behörden diese Auswüchse nicht vorher verhindert hätten.

Einig waren sich die Sprecher der Fraktionen von SPD, CDU, Grünen und FDP, man wolle solche Vorkommnisse in Niedersachsen unbedingt vermeiden. Deniz Kurku (SPD) warnte vor einer Radikalisierung dieser Bewegungen – es sei eine Mischung aus Verunsicherung vieler Menschen und Wut über die Einschränkungen der Freiheitsrechte. „In solchen Situationen wittern Extremisten ihre Chance“, betonte er.


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Innenminister Boris Pistorius (SPD) meinte, es brauche mittlerweile gar keine rechtsradikalen Vereinigungen als Scharfmacher mehr: „Die Bewegung der Corona-Leugner radikalisiert sich von innen heraus – und zwar auch ohne Einfluss von rechts. Alle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden als vermeintlich diktatorisch diffamiert, und zwar aus zahlreichen unterschiedlichen politischen und ideologischen Richtungen dieser Bewegung.“

Wie soll der Staat darauf reagieren? Der CDU-Innenpolitiker Sebastian Lechner riet dazu, das Versammlungsrecht zu überprüfen. Es sei verkehrt, wenn die rechtlichen Bestimmungen so ausgestaltet seien, dass unbedingt ein Anspruch auf eine Demonstration in einer belebten Innenstadt daraus abgeleitet werden kann. Man müsse doch auch berücksichtigen, dass das Demonstrationsrecht als hohes Gut gegen den Gesundheitsschutz der anderen sich dort aufhaltenden Menschen stehe. „Außerdem muss die Situation immer von den Ordnungskräften beherrscht werden können“, fügte Lechner hinzu.

Helge Limburg (Grüne) warnte davor, wie im Fall Leipzig die Kritik auf die Richter des Oberverwaltungsgerichts Bautzen zuzuspitzen, die entschieden hätten, die Demonstration in der Innenstadt zu erlauben. „Die Gerichte entscheiden auf der Basis der Lageeinschätzung der Polizei, und diese sollte man sich einmal näher anschauen“, betonte Limburg.

Es ist verkehrt, die Polizei erst allein zu lassen und sich später oberschlau hinzustellen und Kritik zu äußern.

Marco Genthe (FDP) wandte sich gegen voreilige Kritik am Einsatz der Sicherheitskräfte. „Es ist verkehrt, die Polizei erst allein zu lassen und sich später oberschlau hinzustellen und Kritik zu äußern.“ Der CDU-Politiker Lechner lobte ausdrücklich seinen SPD-Kollegen Kurku für seine abwägenden Worte, während er gleichzeitig scharfe Kritik an die Adresse der SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken richtete: „Das Auftreten von Frau Esken hat mich wirklich verärgert – und ich stelle fest, dass die niedersächsische SPD hier ganz andere Töne anschlägt.“

Wir werden weiterhin mit dem notwendigen Augenmaß, aber auch mit der entsprechenden Entschlossenheit vorgehen.

Kurzzeitig hatte auch in Niedersachsen eine Zuspitzung gedroht, da Veranstalter ursprünglich für den 9. November, den Jahrestag der November-Pogrome, eine Demonstration in Braunschweig angekündigt hatten – verknüpft mit der Uhrzeit 18.18, also einer von Neonazis gern symbolisch genutzter Zahlenkombination, die an Adolf Hitler erinnern soll. Das Motto hätte lauten sollen „Geschichte gemeinsam wiederholen“, und Pistorius sagte im Landtag dazu: „Das ist schlicht widerwärtig!“ Eine Entscheidung in der Sache war deshalb nicht nötig, weil die Veranstalter das Treffen vorher noch abgesagt hatten.

Der Innenminister sicherte zu, dass Polizei und Verfassungsschutz auf der Hut seien, was die Entwicklung in der Szene angehe: „Wir sehen uns genau an, wer zum Umfeld dieser Gruppierungen gehört und wir beobachten weiter sehr genau, wie dynamisch sich die Radikalisierungen innerhalb dieser Szene vollziehen. Wir werden weiterhin mit dem notwendigen Augenmaß, aber auch mit der entsprechenden Entschlossenheit vorgehen.“ Nicht alle Teilnehmer der Demonstrationen seien Rechtsextremisten, hob Pistorius hervor. „Viele sind es ausdrücklich nicht. Aber sie machen sich immer wieder – ob sie es wollen oder nicht – mit Rechtsextremisten gemein, die die mit ihnen Seiten an Seite demonstrieren.“ Kurku findet es als „besonders befremdlich“, dass „Yoga-Begeisterte zusammen mit Neonazis Lieder anstimmen und Reichsbürger mit der Friedensbewegung gemeinsame Sache machen“.