Gastkommentar: Was kommt nach dem Brexit?
von Birgit Honé
(rb) Ist der 23. Juni 2016 und das Nein der Bevölkerung Großbritanniens zur Europäischen Union ein Wendepunkt in der Geschichte des Zusammenwachsens der Staaten Europas? Oder werden die verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten jetzt enger zusammenrücken? Die europäischen Institutionen, nationale Regierungen wie auch die niedersächsische Landesregierung sehen sich mit dem konfrontiert, was lange undenkbar schien: Erstmals verlässt ein Land die Europäische Union. Wenn die Siegesfeier der EU-Gegner in Großbritannien beendet ist, wird sich schnell zeigen, dass es beim Brexit nur Verlierer gibt. Das gilt für Großbritannien wie auch für die EU, und es geht neben den wirtschaftlichen Folgen – übrigens auch für Niedersachsen – viel mehr um die gemeinsamen Werte und Ziele.
Die Themen im emotional aufgeheizten Wahlkampf in Großbritannien werden tiefe Spuren bei der Diskussion um die Zukunft der EU hinterlassen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es nicht nur traditionell in Großbritannien großes Misstrauen gegenüber den EU-Institutionen gibt, sondern in einer großen Zahl weiterer Mitgliedsstaaten, auch in Deutschland. Forderungen von Politikerinnen und Politikern ganz unterschiedlicher Couleur nach weniger statt mehr Europa verdeutlichen das Dilemma, in dem die Union seit ihrer Erweiterung 2004 steckt. Die Ideen und Werte, die zum Aufbau Europas geführt haben, sind längst nicht mehr gegenwärtig. Die Union ist in vielen Ländern auf den Binnenmarkt und die Quelle nützlicher Fördergelder reduziert worden. Eine gemeinsame Erzählung, wie sie die Gründerväter entwickelten und die als Friedensprojekt auch die politische Einigung vorangetrieben hat, fehlt heute. Stattdessen suchen Mitgliedsstaaten wieder die Lösung in nationalen Rezepten und der Abgrenzung gegenüber der EU.
Die Kampagne der EU-Gegner hat auch deutlich gemacht, dass es für sie beim Referendum weniger um das europäische Projekt ging, sondern um Vorurteile, Misstrauen und eine rückwärtsgewandte Abgrenzung. Parolen wie „we want our country back“ oder „take back control“ könnten ebenso bei antieuropäischen Demonstrationen in Frankreich, Österreich oder in Deutschland skandiert werden. Nicht von ungefähr gipfelte die Anti-EU-Rhetorik in Stimmungsmache gegen Flüchtlinge und Bedrohung durch den Islam. Das schaffe, so Londons Bürgermeister Sadiq Khan, ein „Umfeld aus Hass, Gift, Negativität und Zynismus“. Hass auch gegen Politiker, die sich gegen die populistische Angstmache stellten wie die Labour-Abgeordnete Jo Cox.
Beobachter sagen, es war ein historischer Fehler von David Cameron, sich überhaupt auf das Referendum einzulassen. Es war sehr gefährlich, angesichts der weit verbreiteten Stimmung gegen Europa und der andauernden Krisen dieses Risiko einzugehen. Europa vermittelt derzeit nicht das Bild, dass Probleme gemeinsam gelöst werden können und dass alle in die gleiche Richtung wollen. An einer „immer engeren Union“ scheiden sich die Meinungen. Die Menschen erwarten viel von Europa, etwa im Kampf gegen Arbeitslosigkeit oder eine wachsende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich. Die großen Herausforderungen der Finanzkrise oder der Einwanderung nach Europa sollten eigentlich zu der Erkenntnis führen, dass dies alles gemeinsame Herausforderungen sind, die gemeinsames Handeln erfordern, also mehr Europa.
Das gelingt aber nicht, wenn sich in vielen Ländern Europas Teile der Bevölkerung ausgeschlossen fühlen, wenn Misstrauen oder Hass auf etablierte Parteien zum Erstarken von Populisten und Nationalisten führen. Viele Menschen haben den Eindruck, dass andere über Politik und Teilhabe entscheiden, auch über ihre Teilhabe am Wohlstand. Deshalb kommt es gerade jetzt darauf an, für eine immer engere Union und das Zusammenwachsen der Staaten zu werben. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn nennt Europa ein Projekt, das wächst: „Entweder es wächst zusammen oder es wächst auseinander. Wenn in der EU das Gemeinschaftsgefühl verlorengeht, verliert Europa auch seinen entscheidenden Wesenszug.“
Das Projekt Europäische Union darf nicht als Projekt der Elite wahrgenommen werden. Es muss mehr sein als ein grenzenloser Binnenmarkt, der nur nach Regeln und Bedürfnissen der Wirtschaft funktioniert und nicht mehr die Gründungsidee lebt: den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Länder und die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der Menschen. Dies geht nur durch eine Beteiligung an der Gestaltung des politischen Europa. Es kommt jetzt noch mehr darauf an, dass wir für die europäische Idee eintreten und erklären, warum wir in dieser Union besser aufgehoben sind. Dazu gehört noch mehr Transparenz, wenn es um Entscheidungen geht, die die Menschen in Europa wie auch bei uns in Niedersachsen betreffen. Wir haben sehr schnell erfahren müssen, dass vermeintlich außereuropäische Probleme wie Bürgerkriege in Nahost oder Afrika uns unmittelbar betreffen, wenn die Flüchtlinge vor unserer Tür stehen. Bei dieser wie bei anderen globalen Herausforderungen gibt es nur gemeinsame europäische Lösungen.
(Unsere Gastkommentatorin ist Staatssekretärin für Europa und Regionale Landesentwicklung in der Staatskanzlei)