„Flüchtlinge sollten vom ersten Tag an in Deutschland arbeiten können“
Der Niedersächsische Städtetag hat einen neuen Präsidenten – den Oldenburger Oberbürgermeister Jürgen Krogmann (SPD). Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick äußert er sich zu den drängendsten kommunalen Problemen.
Rundblick: Kann man sagen, dass die Städte in Niedersachsen unter zu hoher Zuwanderung leiden?
Krogmann: Leiden ist das falsche Wort. Aber die Flüchtlingsunterbringung ist immer noch eine große Herausforderung, insbesondere in den größeren Städten und Zentren, wo angespannte Wohnungsmärkte herrschen. Ebenso schwierig ist die Situation in Schulen und Kindergärten. In meiner Stadt Oldenburg schulen wir im Durchschnitt derzeit 20 Kinder monatlich ein, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. In den Kindergärten sieht es ähnlich aus. Hier muss mehr passieren, damit Integration gelingt. Bildung ist originär Landesaufgabe. Deshalb muss sich Hannover hier dringend etwas einfallen lassen. Dabei geht es nicht nur um Geld. Es braucht auch Verständnis der Ministerialbürokratie, dass man in dieser krisenhaften Lage mit Standards auch mal flexibel umgehen muss. Wir brauchen mehr Vertrauen in die kommunale Ebene.
Rundblick: Welche drei wichtigsten Neuregelungen in der Bundespolitik sind nötig, damit sich die Situation in der Zuwanderungspolitik ändert?
Krogmann: Ich möchte die sehr emotionale bundespolitische Diskussion nicht kommentieren. Wichtig ist aber, dass Zuwanderung rechtsstaatlich verläuft. Viele Bürger verstehen nicht, warum irreguläre Migration in so großem Umfang zugelassen wird. Die Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten, ist die Aufgabe der Bundesregierung. Außerdem geht es darum, auf nationaler und europäischer Ebene für eine faire Verteilung der Geflüchteten zu sorgen, damit in unseren Kommunen dem Gefühl der ständigen Überlastung begegnet wird.
Rundblick: Sollte man anerkannten Flüchtlingen und Asylbewerbern die Sozialleistungen kürzen, damit sie eher motiviert werden, eine Arbeit aufzunehmen?
„Wir können von Arbeitslosen, die hier geboren sind, nicht mehr verlangen als von Menschen, denen wir Schutz und Zuflucht gewährt haben.“
Krogmann: Persönlich finde ich, dass Geflüchtete, auch in ihrem eigenen Interesse, schneller in Arbeit gebracht werden sollten. Zudem haben wir in vielen Bereichen, trotz der derzeitigen Konjunkturschwäche, einen erheblichen Arbeitskräftebedarf. Flüchtlinge sollten deshalb vom ersten Tag an arbeiten dürfen. Wo dazu dauerhaft keine Bereitschaft da ist, darf es auch mal sanften Druck geben, auch über die Sozialleistungen. Wir können von Arbeitslosen, die hier geboren sind, nicht mehr verlangen als von Menschen, denen wir Schutz und Zuflucht gewährt haben. So erreichen wir vielleicht auch wieder mehr Akzeptanz für Zuwanderung, die wir, angesichts unserer demographischen Entwicklung, eigentlich dringend brauchen.
Rundblick: Wie steht es um die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern in den Kommunen? Hat sich die Lage in den vergangenen Monaten eher entspannt?
Krogmann: Unsere Gespräche mit dem Land haben einiges bewirkt. Insgesamt kommen derzeit etwas weniger Flüchtlinge nach Niedersachsen. Durch die massive Schaffung eigener Unterkünfte ist es dem Land zudem gelungen, die Verteilung an die Kommunen besser zu steuern. Das erkennen wir an. Gleichwohl ist die Unterbringung auf dem Wohnungsmarkt eine bleibende Herausforderung, zumal der Wohnungsneubau ja deutlich zurückgegangen ist. Ein besonderes Problem ist die finanzielle Lage vieler Städte und Gemeinden, die gerade deutlich ins Minus dreht.
Rundblick: Die wirtschaftliche Lage Niedersachsens ist angespannt, vor allem an den industriellen Standorten. Die Hiobsbotschaften von VW sorgen für Verunsicherung. Was sind Ihre Erwartungen an die Landesregierung bei der Lösung der Krise?
Krogmann: Die Landesregierung muss darauf drängen, dass sich alle Beteiligten zusammensetzen und Lösungen finden, wie sie aus dieser herausfordernden Situation herauskommen. Das Land muss sich dabei sehr aktiv einbringen. Im Übrigen hat das Land eine gewichtige Stimme im VW-Aufsichtsrat, bei wichtigen Entscheidungen gibt es ein Veto-Recht. Hier gilt es die Weichen zu stellen, um die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswagen zu sichern. Ziel muss sein, dass der Wirtschaftsstandort Niedersachsen langfristig gestärkt aus dieser Lage hervorgeht. Aber auch Kommunen könnten ein wichtiger Faktor für die konjunkturelle Belebung sein. Es gibt bundesweit in vielen Kommunen enormen Investitionsbedarf, zum Beispiel in Schulen, Infrastruktur, Klimaschutz und Digitalisierung, aber auch in Kultur und Sport. Dazu braucht es geeignete Fördermittel mit möglichst wenig Bürokratie. Die Kommunalinvestitionsprogramme nach der Finanzkrise 2008/2009 sind eine tolle Blaupause dafür, wie es gehen kann. Man muss nur wollen.
Rundblick: Wie lässt sich die Standortsicherung für die VW-Werke garantieren, wenn andererseits die Produktionskosten viel zu hoch sind?
Krogmann: Die aktuellen Debatten bei VW und anderen Industriebetrieben bereiten uns große Sorgen, nicht nur in den Standortkommunen. Ich hoffe sehr, dass es gelingt, die Standorte in Niedersachsen zu halten und die Produktion rentabel und zukunftssicher aufzustellen. Mit Blick auf die Bundespolitik denke ich, dass Wachstum und Beschäftigung als politische Ziele wieder höchste Priorität bekommen müssen. Wir benötigen wieder eine solide Industrie- und Standortpolitik. Politische Entscheidungen wie die Abschaffung der Prämie für E-Autos haben sich negativ auf den Markt ausgewirkt. Es muss wieder Vertrauen geschaffen werden und Verlässlichkeit aufgebaut werden. Neue Steueranreize für E-Autos sind ein richtiger Schritt, um den Markt anzukurbeln. Das Fehlen bezahlbarer E-Autos ist ein Teil der Krise. Auch staatliche Maßnahmen, um die zu hohen Energiekosten für Unternehmen zu senken, sind aus meiner Sicht sinnvoll.
Dieser Artikel erschien am 17.09.2024 in der Ausgabe #161.
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