Die niedersächsischen Fachärzte schlagen Alarm: Für Neupatienten könnte es bald noch schwieriger werden, an einen Termin bei einem Spezialisten zu kommen. Das geplante GKV-Finanzstabilisierungsgesetz von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sieht nämlich unter anderem die Abschaffung der sogenannten Neupatientenregelung vor, die 2019 eingeführt wurde. Diese garantiert den Facharztpraxen seitdem, dass sie ihren Arbeitseinsatz für neue Patienten zu 100 Prozent bezahlt bekommen, während die Vergütung anderer Leistung wegen des knappen Budgets regelmäßig zusammengestrichen wird. Aus Sicht der Fachärzte und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) hat sich dieser finanzielle Anreiz bislang bewährt.

Mark Barjenbruch und Christian Albring warnen vor der Abschaffung der Neupatientenregelung. | Foto: Link

KVN-Chef Mark Barjenbruch räumt zwar ein: „Wir haben bei den Fachärzten definitiv ein Wartezeitproblem.“ Ohne die Neupatientenregelung wäre die Situation aber noch schlimmer. Im ersten Quartal 2022 hätten in Niedersachsen immerhin 2,2 Millionen Patienten kurzfristig einen Facharzttermin erhalten. Und Barjenbruch rechnet vor, dass die niedersächsischen Ärzte durch das Streichen der Neupatientenregelung jährlich etwa 80 Millionen Euro einbüßen würden.  „Wenn man uns dieses Geld nimmt, müssen wir die Praxen umstrukturieren“, warnt Christian Albring, Vorstandsmitglied im Spitzenverband Fachärzte Deutschland (SpiFa) und Frauenarzt in Hannover. Die Folge wären längere Wartezeiten auf Termine und weniger Behandlungstermine.

„Ich bin übers Rentenalter hinüber und mache meine Arbeit noch gerne. Aber unter diesen Bedingungen wird es immer schwieriger. Wir sind enttäuscht, überrascht und auch wütend“, kommentiert Albring die Sparpläne des Bundesgesundheitsministers. Der 70-jährige Frauenarzt betreibt seit 1987 eine Praxis direkt am Sahlkampmarkt, einem sozialen Brennpunkt in Hannover. Der Anteil an Frauen mit Migrationshintergrund und auch der Anteil an Neupatientinnen ist hier besonders hoch. „Für Neupatienten planen wir ein doppeltes Zeitfenster ein, also 20 Minuten“, berichtet Albring. Der Aufwand für Beratung und Behandlung sei bei einer neuen Patientin grundsätzlich höher.



Gleichzeitig geht es dem Gynäkologen wie vielen anderen Fachärzten: Seine Praxis ist auch ohne Neuzugänge schon ausgelastet. „Wir haben die Bude immer voll“, sagt der ehemalige Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte. Das Inkrafttreten des Termin- und Versorgungsgesetzes (TVSG) im Mai 2019 habe er zunächst kritisch gesehen, dann aber wie viele andere Fachärzte auch seine Praxis umstrukturiert, mehr Termine geschaffen und eine offene Sprechstunde eingerichtet. „Wir waren anfangs dagegen, aber wir wurden mit dem Versprechen auf das volle Honorar gelockt“, sagt Albring. Mit dem Wegfall der Neupatientenregelung sähe er sich gezwungen, diese Umstrukturierungen wieder rückgängig zu machen. Und vielen Kollegen würde es ähnlich gehen. Albring warnt deshalb: „Das Gesetz würde den Patienten zum Schaden gereichen.“

„Der neue Patient bedeutet viel Arbeit. Ich muss als Arzt mehr Zeit und Ressourcen investieren, um den neuen Patienten zu versorgen.“

Karl Lauterbach (SPD) in einer Bundestagsrede 2019

Albring betont, dass es sich bei der Neupatientenregelung nicht etwa um ein Geschenk an die Fachärzte handelt. Die Regelung stelle nur sicher, dass die Mediziner auch wirklich das Honorar bekommen, das ihnen laut der offiziellen Gebührenordnung auch zusteht. Bei den Bestandspatienten entscheidet schon jetzt der Zufall darüber, wie hoch der Prozentsatz der Vergütung tatsächlich ist. „Ein Gynäkologe kriegt rund 20 Prozent seiner erbrachten Leistungen nicht bezahlt“, bestätigt KVN-Chef Barjenbruch und kritisiert das viel zu komplizierte Honorarsystem. Ein Wegfall der Neupatientenregelung werde nicht nur die Terminlage bei den Frauenärzten verschärfen, sondern besonders stark auch bei den Dermatologen, Neurologen und Hals-Nasen-Ohrenärzten. Für Unverständnis sorgt bei Barjenbruch auch, dass Lauterbach als Bundestagsabgeordneter 2019 noch für die Neupatientenregelung kämpfte und sie als „einen Schritt weg von der Zwei-​Klassen-Medizin“ bezeichnete. „Der neue Patient bedeutet viel Arbeit. Ich muss als Arzt mehr Zeit und Ressourcen investieren, um den neuen Patienten zu versorgen“, sagte Lauterbach damals im Bundestag.


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Die Unzufriedenheit in der niedersächsischen Ärzteschaft ist aber auch aus anderen Gründen groß. „Die Honorare der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten werden im kommenden Jahr lediglich um zwei Prozent steigen“, bemängelt Barjenbruch. Angesichts einer vor allem von steigenden Energiekosten getriebenen Inflation von voraussichtlich 8,8 Prozent für das Jahr 2023 sei das zu wenig. „Damit können unsere Mitglieder die stark gestiegenen Personal- und Betriebskosten in ihren Praxen nicht gegenfinanzieren“, sagt Barjenbruch. Insbesondere die Praxen, die Großgeräte zum Einsatz bringen, seien von den Kostensteigerungen stark betroffen. Die Radiologen beispielsweise müssten teilweise mit einer Verfünffachung der Energiekosten rechnen und hätten kein Einsparpotenzial, weil die Geräte nicht abgestellt werden können. Der KVN-Vorsitzende kritisiert in diesem Zusammenhang, dass für die in vielen Fällen staatlich betriebenen Krankenhäuser bereits Rettungsmaßnahmen geplant werden, während die niedergelassenen Ärzte im Regen stehen gelassen würden. Barjenbruch kommentiert das so: „Da fragt man sich schon: Ist das denn fair?“