Eine tolerierte Bundesregierung? Das wäre nichts Gescheites
Darum geht es: Sogar gestandene Politiker und renommierte Staatsrechtler äußern derzeit Sympathie für das Modell einer Minderheitsregierung, in der die Kanzlerin auf wechselnde Mehrheiten oder eine unsichere parlamentarische Basis angewiesen ist. Dazu ein Kommentar von Klaus Wallbaum.
Leider vergeht in diesen Tagen kein Talkshow-Abend im Fernsehen, in dem nicht irgendein Wissenschaftler, Politiker oder Hauptstadtjournalist die schöne These von der angeblichen „Stärkung des Parlamentes“ vorgetragen hat. Die geht so: Wenn Kanzlerin Angela Merkel sich nicht mehr auf eine Mehrheit im Bundestag stützen kann, sondern nur auf eine Minderheit, dann muss sie umso mehr werben für eine breite Zustimmung zu ihren Gesetzesvorhaben. Und weil sie das offen tun muss, in der Parlamentssitzung, werde die Qualität der Parlamentsdebatten und anschließenden -entscheidungen auch größer werden. Dann sei es endlich vorbei mit der „Hinterzimmerpolitik“, bei der die Fachleute der Koalition im Geheimen auskungeln, welchen Weg sie einschlagen – und im Bundestag anschließend, nach eher langweiligen Debatten, das vorher längst Festgelegte billigen.
Das klingt richtig gut, fast zu gut. Nach dieser Lehre müsste man also dankbar sein für die total verfahrene Situation, in der sich gegenwärtig die deutsche Politik befindet. Die SPD will bislang nicht regieren, die FDP will nicht mit Grünen und Union – und niemand will mit der AfD. Für SPD, Grüne und Linke reicht es nun mal nicht, für CDU/CSU und FDP auch nicht. Könnte jetzt also die große Stunde des Parlamentarismus schlagen, in der die gute Politik aus dem offenen Diskussionsprozess in der Volksvertretung erwächst – kraft guter Argumente und geschickter Überzeugungskraft?
Negativbeispiel Sachsen-Anhalt
Wer so denkt, verkennt leider das Wesen der politischen Prozesse. Auch für den Fall einer Minderheitsregierung bliebe die Vision von der gestaltenden Kraft der hochqualitativen Parlamentsdebatten wohl eine Illusion. Das lehren die praktischen Erfahrungen. Was passieren dürfte, wenn wir eine Minderheitsregierung von Angela Merkel hätten, lässt sich am Beispiel einer Minderheitsregierung betrachten, die in den neunziger Jahren für Aufregung sorgte. Zwischen 1994 und 2002 führte Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) in Sachsen-Anhalt zwei Kabinette, die jeweils ohne Mehrheit im Landtag waren. Er musste zwar nicht auf wechselnde Mehrheiten vertrauen, was einen riesigen Kraft- und Koordinationsaufwand bedeutet hätte, sondern auf einen „stillen Teilhaber“ – die PDS, die nach der damaligen Lesart der SPD noch nicht koalitionsfähig war. Das ist etwa das Modell, das einigen Sozialdemokraten heute vorschwebt, wenn sie darüber nachdenken, die SPD könne ein Minderheitenkabinett Merkel mit Verabredungen über längere Zeit tolerieren – bei vorherigen Vereinbarungen über Bundeswehreinsätze, EU-Reformen und bestimmten Gesetze in der Arbeitsmarkt- und Flüchtlingspolitik beispielsweise.
Eine Hand wäscht die andere – das geht nicht
Eine Große Kooperation anstelle einer Großen Koalition? Damalige Mitglieder der SPD-Minderheitsregierung Höppner in Magdeburg erinnern sich mit Schaudern an das, was damals üblich war, wenn man überhaupt etwas beschließen wollte: Zum einen waren Absprachen mit der PDS schwierig, weil sie – formal Opposition – zum Mittragen bestimmter Entscheidungen überredet werden musste. Die Gegenleistung in Form von Teilhabe an der Macht mit Ministern und anderen Posten blieb der Partei jedoch verwehrt. Das Aushandeln nach dem Motto – eine Hand wäscht die andere – war auch nicht möglich. Das wiederum führte dazu, dass sich viele in der PDS querstellten, weil sie ein Entgegenkommen für ihr Wohlverhalten gegenüber der Regierung nicht recht erkennen konnten. Es war ja auch keines möglich. Ein echtes Ringen im Parlament um die besten Lösungen zwischen den Fraktionen fand damals auch nicht statt. Denn Gesetzgebungen sind komplizierte, langwierige und mit reichlich Kommunikation verbundene Prozesse, dort gibt es tatsächlich ein Geben und Nehmen. Dies geschieht nicht nur im Kontakt zwischen den verschiedenen Fraktionen, sondern lange vorher und später auch parallel dazu ebenso zwischen widerstreitenden Interessensverbänden, die allesamt Einfluss nehmen auf das, was das Parlament am Ende beschließt. Eine Minderheitsregierung, die neben diesem üblichen Ausgleich der Positionen von Interessensverbänden zusätzlich noch um die Zustimmung bei der Opposition ringen muss, ist zwangsläufig mit der Koordination heillos überfordert. Gesetzgebung würde sich verzögern, sie wäre schwer kalkulierbar – und die Regierung wäre damit objektiv geschwächt.
Eine Minderheitsregierung, so sie ernsthaft in Erwägung gezogen werden sollte, könnte wohl nur klappen in Verbindung mit einer Tolerierung. Konkret: Die SPD würde eine Minderheitsregierung von Angela Merkel stützen, obwohl sie selbst nicht Regierungspartei wäre. Die Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt zeigen aber, dass niemand damit wohl mehr Probleme hätte als die SPD selbst. Sie wäre in einer Zwitterrolle – sowohl Oppositionspartei als auch in Verantwortung. Für Deutschland ist eine solche schwankende Basis schlecht. Viel besser wäre es, die SPD würde sich lieber früher als zu spät dafür entscheiden, eine richtige Koalition mit der Union einzugehen. Im Interesse des Landes – und auch im Interesse der Sozialdemokraten. Allen vorherigen Versprechungen zum Trotz.