Die unerwartete Revolte in der AfD
Wohl die meisten in der AfD hatten noch vergangenen Freitag, kurz vor dem Parteitag am Wochenende, noch auf einen klaren Sieg von Armin-Paul Hampel gewettet. Der 63-jährige frühere Fernsehjournalist aus Uelzen, derzeit außenpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, sollte eigentlich das politische Stehaufmännchen werden – nach seinem Tief vor zweieinhalb Jahren, als er den Landesvorsitz der Partei abgeben musste, wäre er jetzt wieder ganz oben gewesen – wieder auf Position eins der Landesliste für die Bundestagswahl. Ganz so, wie er es 2017 schon gewesen war.
Doch dann kam alles anders. Die Mitgliederversammlung der AfD in der „Millennium-Halle“ in Braunschweig war gut besucht, etwa 530 Teilnehmer waren aus allen Teilen des Landes angereist. Aber schon bald nach Beginn merkte man, wie gespalten die Partei immer noch ist. Auf der einen Seite steht der Landesvorstand um den im September zum neuen Landesvorsitzenden gewählten Bundestagsabgeordneten Jens Kestner aus Northeim.
Dieser Ausgang ist mehrfach bemerkenswert. Erstens zeigt er zweieinhalb Monate nach der Neuwahl des Landesvorstandes, wie wenig geklärt die Machtverhältnisse in der Landespartei nach wie vor sind. Keineswegs ist der erwartete Effekt eingetreten, dass die Anhänger der früheren Landesvorsitzenden Dana Guth, die seit vergangenem Freitag parteilos ist, scharenweise die AfD verlassen hätten – oder eine neue Heimat suchten, etwa die „Liberal-konservativen Reformer“ (LKR), die schon ihre Arme weit ausgebreitet haben.
Der neue Landesvorsitzende Jens Kestner hat zudem offenbar bisher kaum Integrationskraft entfalten können, er ist alles andere als gefestigt. Nach der gescheiterten Bundestagskandidatur will er jetzt sein Parteiamt behalten – und er dürfte von Ende 2021 an wieder als Beerdigungsunternehmer in Northeim tätig werden. Zweitens ist das Ergebnis von Braunschweig auch ein Signal an die Bundespartei. Kestner, Hampel und ihre Anhänger traten stets so auf, dass sie die Haltung des Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland und des Bundessprechers Tino Chrupalla vorbehaltlos unterstützten – und eine Öffnung gegenüber weit rechts stehenden Kräften nach wie vor begrüßten. Gauland und Chrupalla waren auch beide selbst nach Braunschweig gefahren, um in einem flammenden Plädoyer für den bisherigen Kurs zu werben.
„Das Wundrak von Braunschweig“
Gauland verknüpfte das mit einer Attacke auf den zweiten Bundessprecher Jörg Meuthen, der erst vor gut einer Woche dazu aufgerufen hatte, sich von systemfeindlichen Kräften in der eigenen Partei zu trennen. Damit, meinte Gauland, habe Meuthen die Innenministerien erst auf diese Kräfte aufmerksam gemacht. „Das kommt dabei heraus, wenn man sich zu tief vor dem Verfassungsschutz verbeugt“, rief Gauland in den Saal. Er meinte, „die Beobachtung durch den Verfassungsschutz wird kommen“. Aber er riet gleichzeitig, das nicht als Maßstab für die eigene Taktik zu nehmen – sondern aufrecht zu bleiben und darauf zu warten, was das Bundesverfassungsgericht später verhandeln werde, wenn von der Bundesregierung ein Verbotsverfahren gegen die AfD angeschoben werden sollte.
Viele AfD-Mitglieder erhoben sich nach diesen Sätzen von Gauland und applaudierten stehend. Sie ahnten zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass wenig später alles doch anders als vom Landesvorstand geplant verlaufen sollte. Denn der kurz darauf siegreiche Wundrak sagte in seiner Vorstellung ausdrücklich, die Politik der AfD müsse sich „auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen“. Damit bekannte er sich ganz zur Meuthen-Linie, die viele in der AfD zu Beginn des Parteitags noch zu einer aussterbenden Spezies erklärt hatten. Dabei erntete Wundrak viele Buh-Rufe, aus anderen Ecken starken Applaus.
Als sich Hampel vorher vorgestellt und eine flammende Rede für eine neue Russland-Politik gehalten hatte, war es nicht anders gewesen. Ein Teil des Saals applaudierte kräftig, andere riefen „Buh“. Was die Beobachtung durch den Verfassungsschutz angeht, könnte schon diese Woche etwas Neues geregelt werden, wenn die Innenminister von Bund und Ländern zusammenkommen.
Am Rande des Parteitags kursierten Mutmaßungen darüber, warum das sonst so mobilisierungsstarke Hampel/Kestner-Lager diesmal in die Defensive geraten war. Lag es vielleicht daran, dass im Hintergrund die Hannoveraner und Celler um die Bundestagsabgeordneten Jörn König und Thomas Ehrhorn die Strippen gezogen hatten? Manche wiesen auf ein internes Thema am Rande hin – in Osnabrück, wo nur ein Notvorstand agiert, waren vor wenigen Wochen angeblich 20 Neumitglieder aufgenommen worden, die dort gar nicht hätten registriert werden dürfen. Es soll sich überwiegend um Deutsch-Russen gehandelt haben, und Vorwürfe richten sich an die Adresse des Vorsitzenden, der die Formvorschriften hier wohl nicht ausreichend beachtet haben soll. Dies soll angeblich auch zu angestrengten Debatten zwischen Kestner und dem Vize-Landesvorsitzenden Christopher Emden geführt haben – zwischen den beiden Politikern, die im September mit ihrer gemeinsamen Absprache das politische Ende der bisherigen Vorsitzenden Guth eingeleitet hatten. Hat sich der damals neu gewählte Landesvorstand nun schon wieder überworfen?
Bei den weiteren Kandidaturen für den Bundestag wirkte das Kestner-Hampel-Lager jedenfalls verwirrend, für Platz drei beispielsweise traten unter anderem auch zwei Vize-Landesvorsitzende gegeneinander an. Die Aufgeregtheit, die sich nach diesen Abläufen im Saal verbreitete, spürte man in mehreren Vorstellungsreden, in denen die Kandidaten schon damit begannen, ihre Botschaft zu schreien statt nur zu sprechen. Derweil überlegten einige AfD-Mitglieder am Rande schon, wie man die überraschenden Ereignisse in der Millennium-Halle mit einem knappen Begriff treffend beschreiben könnte. Einer schrieb: „Das Wundrak von Braunschweig“.
Im Ergebnis bedeutet die Aufstellung der Bundestagsliste eine enorme Schwächung des neuen AfD-Landesvorstandes. Der neue Vorsitzende verpasste die Aufstellung für den Bundestag und musste gegenüber einem 34-jährigen Neueinsteiger aus Uelzen den Kürzeren ziehen. Er ist beschädigt. Das Aushängeschild der Niedersachsen-AfD im Bundestag, Armin-Paul Hampel, muss ebenfalls weichen. Während Dana Guth nun Abstand zur AfD sucht, haben ihre bisherigen Anhänger einen Triumpf erreicht, der auch auf ihre bessere Mobilisierung zurückzuführen ist. Wie stark ihnen das politisch noch nutzen kann, lässt sich derzeit schwer abschätzen. (kw)