Der lange Arm der Stasi reichte bis in die letzten niedersächsischen Winkel – und bis in den Landtag und in einige Ministerien. Wie genau das geschah und was alles vom DDR-Geheimdienst angeschoben wurde, wer alles bespitzelt wurde und was dabei zutage kam, lässt sich heute allerdings kaum noch nachvollziehen. Die meisten Unterlagen gehören zum Bereich der „Hauptverwaltung Aufklärung“, also der „Auslandsspionage“, und vieles davon ist auf Weisung der SED im Herbst 1989 vernichtet worden. 16.000 Säcke mit je bis zu 3500 Schnipseln lagern in den Archiven des Stasi-Beauftragten Roland Jahn. Ein Forschungsprojekt, die zerrissenen Teile wieder zusammenzusetzen, kommt nur langsam voran. Womöglich bleibt daher vieles im Dunkeln, was die West-Aktivitäten der Stasi angeht. Im Abschlussbericht der Enquetekommission des niedersächsischen Landtags, dessen Entwurf heute beraten wird, bleibt es deshalb an vielen Stellen bei ersten Hinweisen und Mutmaßungen.

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Allerdings sind die Stasi-Aktivitäten durchaus vielfältig: Von mehr als 400 Menschen in Niedersachsen, die im Visier der Stasi waren, ist die Rede. Oft wurden Politiker, die in die DDR reisten, überwacht. Häufig interessierte sich die Stasi auch dafür, wenn es „braune Flecken“ auf den Westen niedersächsischer Politiker gab, weil sie etwa früher in der NSDAP aktiv waren, das vertuschten und so ihren Aufstieg ermöglichten. Manchmal war die NS-Zeit auch ein Hebel, mit dem spätere Inoffizielle Mitarbeiter zur Stasi-Zuträgerschaft erpresst wurden. Das gilt etwa für den Gastwirt Franz Giese in Melle, in dessen Lokal öfter Willy Brandt einkehrte. Giese soll in Wahrheit Erich Gust gewesen sein, der als Mörder von Ernst Thälmann gesucht wurde. Er kooperierte mit der Stasi – und die ließ ihn im Gegenzug nicht auffliegen.

Das alte Staatssicherheitsgebäude (Stasi) in Berlin. Foto: Fotolia

In anderen Fällen wurden Spitzel in Behörden platziert, so zwei im Landesamt für Verfassungsschutz, eine Sekretärin im Innenministerium, ein Mitarbeiter an der Uni Göttingen. In Garbsen und Umgebung waren besonders viele Stasi-Zuträger aktiv, nahe dem Fliegerhorst Wunstorf nutzte ein Spion die Chance, von seinem Haus aus die Flugbewegungen auszukundschaften. Ein früherer FDP-Bundestagsabgeordneter in Holzminden, Arthur Stegner, fiel in den fünfziger Jahren in seiner Partei in Ungnade, driftete nach rechts außen ab und suchte Kontakt zur Stasi. Der DDR-Geheimdienst legte in den achtziger Jahren offenbar Dossiers über die Fahrer von CDU-Politikern an, etwa von Ernst Albrecht. Die Telefone der Chauffeure, wie auch der Mitglieder der Landesregierung wurden überwacht, Charakterstudien angelegt –  offenbar in der Absicht, etwas herauszufinden, mit dem man einzelne später zur Stasi-Mitarbeit hätte erpressen zu können. In Unternehmen wurden Spitzel eingesetzt – und erklärte „Feinde“ wurden vermutlich sogar in den Tod getrieben, so der in Braunschweig lebende Fußballer Lutz Eigendorf, der vorher „der Beckenbauer der DDR“ war und in Erich Mielkes Lieblingsclub spielte, dann in den Westen floh und für die Stasi fortan ein Verräter war.

Besonders interessant, auch sehr widersprüchlich, ist das Verhältnis der Stasi zu SPD-Politikern. Einerseits galt diese Partei als Erzfeind der Kommunisten, daher wurden viele Wege gesucht, SPD-Politiker auszuforschen. Der spätere Ministerpräsident Gerhard Glogowski etwa, der als Braunschweiger Oberbürgermeister viele Kontakte nach Magdeburg hatte, oder auch die hannöversche SPD, die in den siebziger Jahren von einem Generationskonflikt geprägt war: die „Kanalarbeiter“ um den konservativen Egon Franke, der als Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen auch für die Freikäufe von DDR-Häftlingen zuständig war, und die Linken um Gerhard Schröder, Rolf Wernstedt, Wolfgang Jüttner und ihren Ziehvater Peter von Oertzen, die eine Modernisierung der SPD erstreiten wollten. Im SPD-Ortsverein Herrenhausen arbeitete über viele Jahre ein Vorstandsmitglied, Gerd Grunwald, das „sich nie entscheiden wollte, für welche Seite er denn nun war“, erinnert sich Wernstedt. Grunwald, inzwischen verstorben, war Stasi-Zuträger und berichtete über interne Debatten im SPD-Vorstand, was etwa das Verhältnis der Partei zur SED in der DDR anbelangt. So wusste die Stasi auch über die Anfänge der politischen Karriere Schröders, der ursprünglich 1974 für den Landtag kandidieren wollte, gut Bescheid.

So verhasst viele Sozialdemokraten bei der Stasi offenbar waren, so nützlich erschienen sie ihnen aber, wenn es um die Ostpolitik ging. Schon 1972 kaufte die Stasi im Bundestag zwei Stimmen, um einen Sturz des Kanzlers Willy Brandt und eine befürchtete Abkehr von der Entspannungspolitik zu verhindern. Nun gibt es Hinweise, dass zwei Jahre später, vor der niedersächsischen Landtagswahl 1974, die „Hauptverwaltung Aufklärung“ der Stasi erneut aktiv wurde. Der Berliner Historiker Georg Herbstritt sagte gestern dem Politikjournal Rundblick, dass in einem Stasi-Dokument von „konkreten Wahlkampf-Unterstützungsmaßnahmen“ für zwei SPD-Landtagsabgeordnete im Jahr 1974 die Rede ist. Es sei aber weder klar, worin diese Unterstützung bestand, noch, ob die offenbar begünstigten Politiker überhaupt wussten, wer ihnen da Gutes angetan hatte. Da derzeit nähere Hinweise fehlen, kann nur spekuliert werden, ob die Stasi 1974 verhindern wollte, was zwei Jahre später dann geschah – dass nämlich die CDU in Niedersachsen an die Regierung kam. Oder ob es darum ging, die beiden Politiker unbedingt im Landtag zu sichern, weil man sie womöglich später unter Druck setzen und als Mitarbeiter gewinnen wollte.

Der Fall beweist: Es bleibt noch viel Raum für Nachforschungen – und es ist seltsam, dass gerade diese Akten größtenteils vernichtet worden sind. (kw)