Darum geht es: Der Landtag debattiert darüber, ob die Immunität des SPD-Abgeordneten Ronald Schminke aufgehoben werden soll. Dies wäre die Voraussetzung dafür, dass die Justiz einer Verleumdungsanzeige gegen ihn nachgehen kann. Ein Kommentar von Klaus Wallbaum:

Manche halten das Rechtsgut der Abgeordnetenimmunität für überholt. Tatsächlich stammt es aus einer Zeit, in der das Parlament noch seine Macht erkämpfen musste – meist gegen monarchische Herrscher, die sich missliebige Volksvertreter vom Leibe halten wollten und sie beispielsweise mit erfundenen Vorwürfen überschütteten. Das Parlament konnte sich dann dagegen schützen, dass der Machthaber versuchte, Kritiker zu Kriminellen zu stempeln und damit mundtot zu machen. Solche Verhältnisse sind inzwischen überwunden. Wir leben in einem Rechtsstaat, die Regierung unterliegt in ihrem Handeln außerdem einer starken öffentlichen Kontrolle. Brauchen wir den besonderen Schutz der Parlamentarier nicht mehr?

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Doch, wir brauchen ihn – denn die parlamentarische Demokratie als Rechtsgut hat international, auch in Europa, an Achtung verloren. In Polen zum Beispiel versucht die rechtsnationale Regierung, mit der Unterstützung ihrer Anhänger auf der Straße die Gewaltenteilung im Land auszuhebeln. Erst wurde mit dem Schwung eines überragenden Wahlsieges der Regierungspartei die Justiz entmachtet, dann die Presse eingeschüchtert. Als nächsten Schritt, so kann man befürchten, werden womöglich auch wieder missliebige Abgeordnete verfolgt. Die Immunität kann in solchen Fällen ein wichtiger Schutz sein gegen eine nach totaler Macht strebende Regierung, die sich im populistischen Eifer aufmacht, ein Land von Grund auf zu verändern. Eines ist dabei allerdings ganz wichtig: Die Befürworter der Abgeordnetenimmunität müssen sich vorher im Klaren darüber sein, welchen Sinn diese Vorschrift überhaupt hat. Sie ist nämlich nur dann vertretbar, wenn ihre Grenzen genau beachtet werden.

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Vielleicht haben viele Unterstützer des SPD-Abgeordneten Ronald Schminke, die jetzt gegen die Aufhebung seiner Immunität wegen der Verleumdungsanzeige streiten, genau die Umstände beispielsweise der Debatte in Polen (und nicht nur da) vor Augen – die dramatische Zunahme der Beschimpfungen und Respektlosigkeiten gegenüber demokratisch gewählten Politikern. Vielleicht wollen sie ein Zeichen dagegen setzen und betonen: Parlamentarier dürfen nicht eingeschüchtert werden, sie müssen Missstände doch deutlich benennen können, ohne dass der Staatsanwalt ihnen auf die Finger klopft. Genau diese Unterstützer des hemdsärmligen SPD-Politikers leisten dem Ansehen des Parlamentes nun aber einen Bärendienst, wie der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gestern völlig zu Recht gesagt hat. Denn die Vorgeschichte in diesem Fall ist gar nicht außergewöhnlich: Ronald Schminke hat behauptet, es gebe Missstände in einem Pflegeheim, und der Heimbetreiber fühlt sich nun verleumdet. Wenn Schminke die Vorwürfe belegen kann, und so sieht es aus, steht es gut für ihn – die Staatsanwaltschaft dürfte die Anzeige dann abschmettern. Das wäre ein normaler Vorgang, der jedem, der sich im öffentlichen Raum äußert, jeden Tag widerfahren kann. Sofern aber die Immunität nicht aufgehoben wird, kann der Staatsanwalt die Sache nicht aufklären. Schminke würde den besonderen Schutz für sich beanspruchen, der ursprünglich nur gedacht war zur Abwehr der Willkür eines Herrschers gegenüber schwachen Volksvertretern, und er würde sich damit hervorheben gegenüber anderen Bürgern, die keine Immunität genießen.

Dies wäre aus zwei Gründen fatal: Erstens schaufelt das Wasser auf die Mühlen all derer, die die Repräsentanten des Staates für abgehoben und das System für eine verschworene Gemeinschaft von sich gegenseitig stützenden Akteuren halten. Sind Abgeordnete Bürger erster Klasse? Zweitens könnte der Fall Schminke zum Musterbeispiel dafür werden, dass die Immunität längst ihren Sinn verloren hat. Denn eingeschüchtert wurde der Abgeordnete offensichtlich nicht, einer Willkür der Obrigkeit wurde er auch nicht ausgesetzt. Warum sollte man ihn dann als Parlamentarier noch besonders schützen? Die Rechtsvorschrift könnte auch entfallen. In Nordrhein-Westfalen wurde das bereits 2014 diskutiert.

Dieser Schluss aber wäre leichtfertig, denn natürlich sind auch in Deutschland Situationen vorstellbar, in denen – wie in Polen – Populisten von weit links oder weit rechts an die Regierung gewählt werden. Wer will heute ausschließen, dass irgendwann Abgeordnete entweder eingeschüchtert oder von der Justiz verfolgt werden, weil sie den Mächtigen auf die Nerven gehen? Für Roland Schminke jedenfalls, soviel scheint klar, gelten diese Umstände nicht.

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