Im Saal ist es mucksmäuschenstill, alle Abgeordneten blicken gebannt zu den Rednern nach vorn – und auf der Regierungsbank vertiefen sich manche so stark in ihre Akten, dass man den Eindruck gewinnt, sie wollten gern wie Unbeteiligte wirken. Der niedersächsische Landtag erlebte am Mittwoch eine der seltenen sehr ernsthaften und tiefgründigen Debatten, eine „Sternstunde“. Anschließend wurde eine fast schon historische Entscheidung gefällt: SPD und Grüne setzten durch, dass die Staatsanwaltschaft Göttingen nicht gegen den SPD-Landtagsabgeordneten Ronald Schminke ermitteln darf. Die für die Nachforschungen der Justiz nötige Aufhebung von Schminkes Immunität als Parlamentarier, sonst im Landtag eine Formsache, wurde von der Regierungsmehrheit abgelehnt. Damit bleibt die Verleumdungsanzeige einer Heimbetreiberin gegen Schminke folgenlos, der SPD-Politiker bleibt mit den Stimmen von SPD und Grünen geschützt. Eine Verweigerung der Immunitätsaufhebung hat es zuletzt vor knapp 30 Jahren im Landtag gegeben.

"Mucksmäuschenstill" war es gestern im Landtag einmal - ausnahmsweise  -  Foto: MB.

„Mucksmäuschenstill“ war es gestern im Landtag einmal – ausnahmsweise – Foto: MB.

Der Fall Schminke ist höchst umstritten, wie schon Vorgeschichte zeigt: Der für seine zuweilen deftige Ausdrucksweise bekannte SPD-Abgeordnete aus Hann. Münden prangerte offensichtliche Missstände in einem Pflegeheim an und stellte die Bonität der Betreiberfirma in Frage. Die Geschäftsführerin zeigte ihn daraufhin wegen Verleumdung an – sie warf ihm eine wissentlich falsche Behauptung vor, die er mit der Absicht ausgesprochen habe, sie verächtlich zu machen. Die Staatsanwaltschaft Göttingen wollte daraufhin die Ermittlungen zu der Anzeige aufnehmen, doch bei SPD und Grünen, teilweise auch in der CDU, entstand eine Gegenbewegung. Viele von Schminkes Landtagskollegen zweifelten, ob es erlaubt sein kann, einen freien Abgeordneten mit einer Strafanzeige zu überziehen, wenn er doch nur seine Pflicht tue und den Menschen, die unter schlimmen Zuständen in Pflegeheimen leiden, eine Stimme gebe.

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Bei SPD und Grünen verfestigte sich diese Haltung. Grant Hendrik Tonne (SPD) betonte in der gestrigen Debatte, Abgeordnete hätten aus gutem Grund Sonderrechte wie die Immunität: Sie sollten Missständen nachgehen und diese deutlich benennen können, ohne in der Angst zu leben, von Staatsanwälten verfolgt zu werden. Dies sei eine „Kernaufgabe des Abgeordneten“, und sie solle auch dann gelten, wenn es um den schwerwiegenden Vorwurf der Verleumdung gehe. Der Grünen-Abgeordnete Helge Limburg meinte, die Immunität sei ein wichtiges Recht, der Landtag solle es selbstbewusst nutzen. „Wenn in solchen Fällen Strafverfahren drohen, überlegen sich viele unserer Kollegen im Landtag künftig, ob sie Dinge öffentlich machen oder das lieber lassen sollen.“

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Darauf entgegnete der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion, Jens Nacke, in einer sehr ausgefeilten, sachlichen und gleichwohl überaus deutlichen Rede. Natürlich sei es richtig, sagte Nacke, dass Abgeordnete Mängel in Pflegeheimen ansprechen. „Es gibt hier im Haus niemanden, der das Engagement von Herrn Schminke nicht gutheißt.“ Der Landtag solle aber nicht die Arbeitsweise oder die Motive des SPD-Politikers bewerten, bei der Aufhebung der Immunität gehe es vielmehr um zwei andere Fragen: Ob die Staatsanwaltschaft Göttingen nur deshalb ermitteln wolle, um Schminkes parlamentarische Arbeit zu behindern – und ob durch das Verfahren die Willensbildung des Landtags insgesamt beeinträchtigt wird. Das überlieferte Recht der Abgeordnetenimmunität begründe sich nämlich damit, dass ein willkürliches Vorgehen der Justiz gegen Volksvertreter verhindert werden soll, damit das Parlament als Ganzes gegenüber einer womöglich autoritären Exekutive arbeitsfähig bleiben könne.  Nun folgert Nacke, dass im Fall Schminke weder die Staatsanwaltschaft willkürlich vorgehe noch der Landtag als Ganzes beeinträchtigt werde. Vielmehr richte sich der Vorwurf von Rot-Grün nicht gegen den Staat, sondern gegen einen Bürger – nämlich den Erstatter der Anzeige gegen Schminke. „Mit ihrer Entscheidung, die Immunität nicht aufzuheben, unterbinden SPD und Grüne die Ermittlungen der Justiz. Sie schlagen sich auf die Seite ihres Kollegen. Das mag menschlich verständlich sein, aber sie setzen sich damit an die Stelle des Staatsanwaltes und des Richters gleichermaßen. Damit nehmen sie eine Rolle ein, die dem Parlament nicht zusteht.“ Da Schminke nach dem Willen von Rot-Grün von Strafe bewahrt werden solle, auch wenn sich der Verleumdungsvorwurf als richtig hätte erweisen können, sei fatal: „Ist das wirklich das Signal, das sie heute aussenden wollen? Dass ein Abgeordneter wissentlich die Unwahrheit sagen darf, wenn nur das Ziel ein gutes ist?“ Der CDU-Politiker geht noch einen Schritt weiter und erwähnt, dass Schminke selbst von der Koalition eine Besserstellung gegenüber allen anderen Bürgern verlangt habe und Rot-Grün nun nicht die Kraft habe, ihm diese Forderung abzuschlagen. „SPD und Grüne nutzen jetzt die Immunität als ein Mittel, das ursprünglich einen Abgeordneten vor staatlicher Willkür schützen sollte. Tatsächlich ist diese Entscheidung aber ihrerseits ein Akt staatlicher Willkür.“

Als Nacke seine Rede beendete, herrschte eine Zeitlang eisiges Schweigen im Regierungslager, die Opposition spendete kräftigen Applaus. Anschließend war Christian Grascha (FDP) an der Reihe, dessen Kritik nicht weniger scharf ausfiel. Rot-Grün betreibe einen „dreisten Rechtsbruch“ und agiere hilflos gegenüber Schminke: „Sie lassen sich nötigen und stellen Politik über Recht. Wegen einer Lappalie stellen sie zentrale Grundsätze der Verfassung in Frage.“

Auf die heftigen Angriffe der Opposition reagierte dann lediglich Helge Limburg von den Grünen. Kurz danach wurde abgestimmt – und Schminke selbst stand dabei abseits, nahm nicht teil. Auf seine eigene Stimme kam es am Ende trotz der Einstimmenmehrheit doch nicht an, weil bei der CDU eine Abgeordnete fehlte. (kw)