Die Grundsatzfrage vor Gericht: Bindet die Staatskanzlei das Parlament ausreichend ein?
Über allem, was im Saal 1010 des Bückeburger Landgerichts an diesem Donnerstag verhandelt wurde, stand eine große grundsätzliche Frage: Hat die Landesregierung richtig gehandelt, als sie im April und Mai ihre Corona-Verordnungen im Eiltempo vorgelegt und in Kraft gesetzt hat? Oder hätte der Landtag früher beteiligt werden und um mögliche Einwände gefragt werden müssen? Ein Versäumnis sehen Grüne und FDP, beide Oppositionsfraktionen hatten daher schon vor Monaten das höchste Gericht des Landes angerufen, den Staatsgerichtshof in Bückeburg. Am Donnerstag nun, zur mündlichen Verhandlung in dieser Sache, traten FDP-Fraktionschef Stefan Birkner und der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Landtagsfraktion, Helge Limburg, als Kläger auf. In der Rolle desjenigen, der sich rechtfertigen musste, fand sich Jörg Mielke wieder, der Chef der Staatskanzlei in Niedersachsen.
Der prinzipielle Konflikt wäre wohl einen staatsphilosophischen Diskurs wert gewesen: Ist der Ausnahmezustand tatsächlich die Stunde der Exekutive, oder aber muss in einer parlamentarischen Demokratie die Volksvertretung immer möglichst gut eingebunden werden? Staatsgerichtshofpräsident Thomas Smollich widerstand jedoch der Versuchung, derlei übergeordnete Fragen zu beleuchten. Vor dem niedersächsischen Verfassungsgericht, als das der Staatsgerichtshof bezeichnet werden kann, spielt vielmehr die konkrete Gesetzesnorm eine Rolle neben dem Vorwurf, gegen diese Norm sei verstoßen worden. Birkner und Limburg greifen drei Rechtsverordnungen an, die zunächst vom Sozialministerium und dann von der Staatskanzlei entworfen und dann verfügt worden waren – am 2. April, am 8. Mai und am 22. Mai. In den ersten beiden Fällen lagen zwischen der Beteiligung der Ministerien und der Kommunalverbände einerseits und der endgültigen Verkündung andererseits nur wenige Stunden, im dritten Fall waren es anderthalb Tage. Die Landtagsfraktionen waren jedoch, anders als es nun seit dem Sommer 2020 regelmäßig der Fall ist, vorab gar nicht einbezogen worden. Vielleicht war es bei den Regierungsfraktionen von SPD und CDU anders, dann aber war dies dort vereinzelt und inoffiziell gelaufen.
Nun verweisen Birkner und Limburg auf Artikel 25 der Landesverfassung, in dem folgende Formulierung festgehalten wurde: Die Landesregierung ist verpflichtet, den Landtag über die Vorbereitung von Gesetzen, Gegenstände von grundsätzlicher Bedeutung und die Vorbereitung von Verordnungen „frühzeitig und vollständig zu unterrichten“. Aus Sicht von Grünen und Freidemokraten hat die Regierung im April und Mai eklatant gegen diesen Verfassungsgrundsatz verstoßen und damit Recht gebrochen. Birkner meinte, ein Beleg dafür sei auch die Tatsache, dass die Kommunalverbände sehr wohl einbezogen worden waren – wenn auch nur mit einer Anhörungsfrist von wenigen Stunden (anstelle von sonst üblich sechs Wochen). „Was für die Kommunen gilt, muss doch für den Landtag als Verfassungsorgan allemal gelten“, meinte Birkner. Die Staatskanzlei erwiderte, es gehe um den Schutz der vertraulichen Meinungsbildung innerhalb der Landesregierung, daher dürften halb-fertige Verordnungsentwürfe nicht vorab der Opposition gegeben werden und dieser Munition für politische Auseinandersetzungen liefern. Dass dieser Kernbereich der Willensbildung in der Regierung schutzwürdig ist, stehe immerhin auch in der Landesverfassung – in Artikel 24. Doch die Argumentation der Staatskanzlei wird vom FDP-Chef nicht akzeptiert: „Wenn die Unterlagen bei den Kommunalverbänden sind, haben sie die geheimen Räume der Landesregierung doch sowieso schon verlassen.“
Mielke beurteilte die Lage anders: Natürlich müssten die Kommunen frühzeitig über Regierungspläne informiert werden – das liege aber daran, dass sie als ausführende Organe eine wichtige Rolle in der Landesverwaltung erfüllten. „Und hier geht es ja immerhin auch um Regierungsverordnungen“, betonte der Staatskanzleichef. Mit der Beteiligung des Landtages verhalte es sich anders, denn die Dynamik der Corona-Krise habe die gesamten regierungsinternen Planungen über den Haufen geworfen, man habe ganz anders als üblich an die Sache herangehen müssen. Die Beteiligung der anderen Ministerien und der Kommunalverbände, die sonst nacheinander laufe, habe parallel geschehen müssen – weil man unter einem riesigen Zeitdruck gestanden habe. Oft seien auf den letzten Metern noch Veränderungen am Verordnungstext vorgenommen worden – sowohl auf der fachlichen Ebene wie auch an der politischen Spitze in der Koalition. Es sei also anfangs gar nicht denkbar gewesen, einen bereits vollständig intern abgestimmten Verordnungstext vor Inkrafttreten auch noch mal den Landtagsfraktionen zu übermitteln. Die nötige Zeit, Hinweise und Anregungen der Landtagsfraktionen einzubeziehen, habe schlicht gefehlt. Das Infektionsgeschehen habe das Tempo bestimmt.
Ist nun diese Argumentation für den Staatsgerichtshof überzeugend? Das Urteil wird am 9. März verkündet, erklärte Gerichtspräsident Smollich. Zuvor hatten sowohl er als auch seine Stellvertreterin Uta Rüping und die Berichterstatterin Hannelore Kaiser mehrfach zu einer anderen Rechtsvorschrift nachgefragt, nämlich der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Landesregierung (GGO). Dort steht genau vorgegeben, dass die Verbandsbeteiligung starten kann, wenn innerhalb der Regierung eine Vorlage zu einem Gesetz oder einer Verordnung abgestimmt ist. Die Kommunalverbände konnten also nur zu etwas Stellung nehmen, was wenigstens teilweise vorher schon in der Regierung geklärt war. Die Richter werden nun abwägen, ob das hier relevant ist – und ob möglicherweise daraus abzuleiten wäre, dass die Regierung verpflichtet gewesen wäre, wenigstens einen „Zwischenstand“ ihrer Verordnungspläne auch dem Parlament vorab zur Kenntnis zu geben. Würden die Richter das bejahen, so könnte die Klage von Grünen und FDP am Ende Erfolg haben. Dann würde der Regierung das Etikett „Verfassungsbruch“ anhaften. Allerdings: So schlimm wäre selbst das nicht, denn tatsächlich hat die Große Koalition im Sommer ohne große Debatten die eigene Vorgehensweise verändert. Seither gibt die Staatskanzlei den Landtagsfraktionen die Verordnungsentwürfe vorab zur Kenntnis. Was zunächst angeblich ausgeschlossen war, ist längst geübte Praxis.