Die Debatte der Woche…
…kreist um die Frage, ob die Strategie der fortgesetzten Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebote – trotz der schrittweisen Öffnungen – noch die richtige ist. Es wird die These vertreten, dass man aus den Erkenntnissen über den Verlauf von Covid19-Erkrankungen vielmehr einen anderen Schluss ziehen sollte, nämlich den, lieber die Risikogruppe zu isolieren und besonders zu schützen. Das hieße also, nicht nur die Bewohner von Altenheimen von Außenkontakten abzuschotten, wie es bereits geschieht, sondern generell alle älteren Menschen, die bestimmte Risikofaktoren erfüllen. Ende April hatte der Präsident des Städte- und Gemeindebundes, Marco Trips, diesen Gedanken in die Debatte geworfen. Aufgegriffen hat den Ball allerdings niemand.
Wie der Trips-Vorschlag aussieht: Trips hat im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick seinen Gedanken vertieft. Seine Argumentation sieht so aus: Ziel der Einschränkungen des öffentlichen Lebens war es, die Ansteckung mit dem Corona-Virus in der deutschen Bevölkerung so zu verzögern, dass die Neuinfektionen nicht explosionsartig zunehmen und das Gesundheitssystem überfordern. Das sei anfangs mit den radikalen Kontaktsperren und Geschäftsschließungen auch geschehen, der Erfolg habe sich eingestellt. Inzwischen aber sehe man, dass es schwerere Fälle der Krankheitsverläufe meistens nur bei älteren Menschen gebe, die Vorerkrankungen haben und schwergewichtig sind. Bei ihnen ist das Immunsystem eingeschränkt.
Trips meint nun, man müsse abwägen zwischen der Schädigung für Wirtschaft und Gesellschaft, die eine umfassende Kontaktsperre auf mittlere und längere Sicht bewirkt, und den Folgen einer Alternativlösung. Diese Alternativlösung könne sein, dass die Gruppe der Risikoträger weitgehend isoliert wird, der Staat ihre Versorgung übernimmt und streng überwacht, dass die Kontakte der Gruppe zur Außenwelt nur unter höchsten Schutzmaßnahmen geschehen. Wenn man diese Menschen abschotte von der Umgebung, könne die Umgebung wieder den Betrieb hochfahren, die negativen Folgen der ersten Kontaktsperren für die Gesellschaft könnten schneller überwunden werden.
Trips meint, die Betroffenen in der Risikogruppe könnten mit kostenlosen Speisen, Medikamenten und einer maximalen Betreuung unterstützt werden, sogar eine Hilfskampagne könne gestartet werden. Die Isolation solle also nicht mit einer Ausgrenzung einhergehen, sondern mit umfassender Fürsorge. Man könne auch Spaziergänge und ähnliches organiseren.
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Wie die Reaktionen auf den Trips-Vorschlag klingen: Trips ist nicht der einzige, auch nicht der erste, der eine solche Idee vertreten hat. Der ehemalige Linken-Landesvorsitzende Manfred Sohn hatte ganz zu Beginn der Corona-Krise einen ähnlichen Vorschlag verfolgt und dafür sogar eine Unterschriftensammlung gestartet. Das Merkwürdige an der öffentlichen Debatte ist, dass niemand darauf recht eingehen mag.
In einer Pressekonferenz, an der auch Ärzte- und Kirchenvertreter teilnahmen, kam als Antwort auf eine Frage nach dem Trips-Modell eine Reaktion auf eine Äußerung des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer (Grüne). Der hatte gemeint, es würden mit der gegenwärtigen Politik Menschen am Leben gehalten, die in einem halben Jahr sowieso sterben würden. Helle Empörung war die Reaktion darauf. Trips sagt, auch er distanziere sich vehement von Palmers Ausrutscher. Er selbst, betont Trips, wolle die alten Menschen nicht aufgeben oder opfern, sondern im Gegenteil besonders schützen – und das nur auf einem anderen Weg als den, die gesamte Bevölkerung mit Kontaktsperren zu belegen.
Was für und was gegen den Trips-Vorschlag spricht: Da die Risikogruppe recht überschaubar sein dürfte, wären strikte Kontaktsperren nur für diese Gruppe sicher für die Volkswirtschaft leichter zu verkraften als eine Einschränkung, die die gesamte Breite der Gesellschaft trifft. Doch die Probleme bei der Umsetzung liegen im Detail: Ab wann ist jemand Mitglied einer Risikogruppe? Erst ab 70 oder schon ab 60? Bei einer bestimmten Vorerkrankung vielleicht für einige schon ab 55? Wenn sich Betroffene freiwillig in Isolation begeben und für sie ein staatliches Unterstützungsangebot organisiert wird, ist das noch relativ problemlos zu organisieren und kann sogar als Akt einer gesellschaftlichen Solidarität begründet und vertreten werden.
Aber problematisch würde es, wenn jemand als Mitglied einer Risikogruppe identifiziert wird, der mitten im Berufsleben steht, viele Kontakte zu jüngeren Menschen hat und dieses Leben auch weiterhin fortsetzen möchte. Sollte die Isolation für ihn zwangsweise geschehen, da nur das die konsequente Umsetzung des Konzepts ermöglichen könnte, so würden erhebliche Konflikte entstehen. Die Stigmatisierung von Alten und Kranken würde die Folge sein. Wenn ein Betroffener dagegen klagt und sich in seiner Würde und seinen Freiheitsrechten zu Unrecht beschnitten fühlt, dürfte er vor deutschen Gerichten damit Erfolg haben.
Die einzige Lösung aus diesem Dilemma bestünde wohl darin, die Isolation der Risikogruppe nicht als Abwertung oder Distanzierung zu organisieren, sondern im Gegenteil als Aufwertung und besondere Wertschätzung. Das könnte aber nur dann passieren, wenn die isolierte Gruppe nicht am Rand der Gesellschaft steht, sondern mittendrin, wenn sie also Aufgaben erhält, die für die Gesamtheit wichtig sind – und wenn ein ständiger Kontakt zur jüngeren Bevölkerung organisiert und gewährleistet wird, natürlich unter dem Gesichtspunkt maximaler Schutzvorkehrungen. Nur: Über all diese Fragen hätte man mal diskutieren können – das passiert jedoch nicht.
Warum das Trips-Modell ein Tabu ist: Die Anregung des Präsidenten des Städte- und Gemeindebundes berührt den Kern der gesamten Corona-Diskussion: Was ist die Gesellschaft bereit aufzubringen, damit der vom Virus besonders bedrohte Teil geschützt wird. Aus Gründen des Infektionsschutzes basiert aber das Modell darauf, dass ein bestimmter Teil der Bevölkerung, hier die Alten und Kranken, also die Schwachen, von der Mehrheit der Gesellschaft abgegrenzt wird. Dies erinnert an Apartheid in Südafrika, die „Rassentrennung“, oder noch schlimmer an die Ausgrenzung der Juden im Nationalsozialismus. Unter solchen Vorzeichen fällt die Diskussion zu solchen Themen außergewöhnlich schwer.