Die Angst vor Mehrkosten droht den Start des Deutschlandtickets zu verzögern
Dem Deutschlandticket steht ein äußerst holpriger Start bevor. Im günstigsten Fall gelingt noch eine Punktlandung, im schlimmsten Fall droht bei der Einführung der neuen ÖPNV-Fahrkarte ein Flickenteppich. „Wenn ich an den 1. Mai denke, an dem das Deutschlandticket eingeführt werden soll, wird mir angst und bange, weil ich nicht weiß, wie unser Verkehr finanziert werden soll“, beklagte die Ludwigsburger Omnibusunternehmerin Carry Buchholz vor wenigen Tagen bei einer öffentlichen Anhörung um Bundestags-Verkehrsausschuss. Schon durch Corona sei ihr Familienunternehmen arg gebeutelt worden und habe „nicht alles ausgeglichen bekommen, was ausgeglichen gehört“. Der eigenwirtschaftliche Verkehr lebe nun einmal von den Fahrgeldeinnahmen, weshalb die Einführung des bundesweit gültigen Einheitstickets ein riesiger Einschnitt sei. „Es ist Ihre Aufgabe, das für uns zu lösen, weil Sie das Ticket beschließen“, appellierte Buchholz an die Bundestagsabgeordneten. Es wolle jedoch keiner in die Finanzierungsverantwortlichkeit für die vollen Kosten gehen.
„Mit dem Gesetzentwurf wird eine dauerhafte Ausfinanzierung des Deutschlandtickets nicht gewährleistet“, kritisiert auch die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände (BVkom). In einer gemeinsamen Stellungnahme warnen Städtetag, Landkreistag sowie Städte- und Gemeindebund davor, dass schon ab 2024 nicht mehr genug Geld im Topf ist, um Finanzierungslücken zu schließen. Der Gesetzentwurf beinhaltet zwar auch eine Nachschusspflicht – bislang aber nur für das Jahr 2023. „Die Abwälzung etwaiger Mehrkosten des Deutschlandtickets auf Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger ist aus Sicht der kommunalen Spitzenverbände ein unhaltbarer Zustand“, heißt es weiter.
Für die privaten Verkehrsbetriebe ist die Lage besonders brisant. Ihnen droht im schlimmsten Fall sogar die Insolvenz, wenn Ausgleichszahlungen nicht oder nur mit Verzögerung geleistet werden. In Niedersachsen betrifft das etwa 40 Prozent aller ÖPNV-Linienverkehre, vor allem in den ländlichen Regionen. „Den Busunternehmen, die bereits rechtssicher wissen, dass sie ihren Ausgleich erstattet bekommen, empfehlen wir, den Fahrplan zum Deutschlandticket einzuhalten. Allen anderen raten wir: Wartet lieber ab“, sagt Michael Kaiser, Geschäftsführer des Gesamtverbands Verkehrsgewerbe Niedersachsen (GVN). Es könnte also sein, dass das Deutschlandticket bei seiner Einführung von einigen Busunternehmen nicht anerkannt wird – in Niedersachsen ebenso wie im restlichen Bundesgebiet. „In der jetzigen Konstruktion ist eine flächendeckende Anwendung und Anerkennung des Deutschlandtarifs nicht sichergestellt“, bestätigen auch die kommunalen Spitzenverbände. Sie fordern die Aufgabenträger auf, die bestehen Verkehrsverträge anzupassen oder – besser noch – Allgemeine Vorschriften zu erlassen. In dieser Frage schieben sich Bund und Länder allerdings gegenseitig den schwarzen Peter zu, jeder sieht den anderen in der Pflicht. Für Niedersachsens Verkehrsminister Olaf Lies (SPD) liegt der Ball ganz klar im Feld der Bundesregierung. Die kommunalen Spitzenverbände haben jedoch Verständnis für die Zurückhaltung in Berlin. „Der Bund trifft aus verfassungsrechtlich nachvollziehbaren Gründen selbst keinen Anwendungsbefehl unter Verweis auf seine fehlende Regelungskompetenz“, lautet die Einschätzung des BVkom. Warum sich der Streit zwischen Bund und Ländern so lange hinzieht, erklärt GVN-Geschäftsführer Kaiser wie folgt: „Derjenige, der die Vorschrift erlässt, der bestellt die Musik. Und wer bestellt, muss am Ende auch bezahlen.“ Um diesen Konflikt aufzulösen bringt der Bundesverband deutscher Omnibusunternehmer (BdO) deswegen folgende Minimallösung vor: Bund und Länder sollten im Regionalisierungsgesetz zumindest die Festsetzung des Höchsttarifs festlegen und sicherstellen, „dass zumindest bei eigenwirtschaftlichen Verkehren und bei Nettoverträgen allgemeine Vorschriften erlassen werden“.
Ein Flickenteppich beim Deutschlandticket ist nach Einschätzung der kommunalen Spitzenverbände übrigens nicht nur für die Kunden von Nachteil, sondern könnte das gesamte Konstrukt in Gefahr bringen. Denn wenn sich Verkehrsunternehmen am Deutschlandticket nicht beteiligen oder später wieder aussteigen, könnten sich die Ticketanbieter dem Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs wegen falscher Informationen aussetzen, warnt der BVkom. Das Problem: Die Unternehmen würden beim Verkauf des Deutschlandtickets „eine Fahrtberechtigung für alle Nahverkehrsprodukte der Bundesrepublik“ versprechen, ohne dass sie dieses Leistungsversprechen tatsächlich einlösen können. Zudem könnten Kunden gegenüber den Ticketanbieter Schadenssprüche geltend machen, wenn sie unterwegs auf Zusatzkosten stoßen.
Norbert Mauren vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), der den öffentlichen Personennahverkehr vertritt, hält dagegen den aktuellen Gesetzesentwurf für ausreichend. Damit müssten die Städte, Kommunen und Landkreise den neuen Tarif nicht überall individuell genehmigen. Auch die Sorge vor einem Flickenteppich teilte Mauren im Bundestag-Verkehrsausschuss nicht. Die Länder seien aktuell dabei, sich auf einheitliche Tarifbestimmungen zu verständigen, sagte er. Der VDV begrüße auch, „dass der Preis für das Deutschlandticket lediglich für den Zeitpunkt seiner Einführung auf einen Betrag von 49 Euro pro Monat gesetzlich festgeschrieben wird“. Es werde zu erheblichen jährlichen Mindereinnahmen führen. Daher sollte der Preis mit Blick auf die weiterhin steigenden Personalkosten und Energiepreise auf keinen Fall dauerhaft „eingefroren“ oder aufgrund kurzfristiger politischer Opportunitäten gar gesenkt werden, so der VDV-Vertreter.
120 Millionen Euro für Niedersachsen
Um die Mindereinnahmen der Nahverkehrsunternehmen aufgrund des Deutschlandtickets auszugleichen, werden Bund und Länder zunächst 3 Milliarden Euro pro Jahr bereitstellen. Die Hälfte davon kommt aus dem Steueraufkommen des Bundes, der die Regionalisierungsmittel für die Jahre 2023 bis 2025 um 1,5 Milliarden Euro erhöht. Das Geld wird nach dem sogenannten „Kieler Schlüssel“ auf die Bundesländer verteilt, der sich zur Hälfte aus dem Bevölkerungsstand und zur Hälfte aus den bestellten Zugkilometern im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) zusammensetzt. Von den zusätzlichen Mitteln wird Niedersachsen deswegen genau 120 Millionen Euro erhalten, womit das Flächenland aufgrund seines relativ geringen SPNV-Anteils weniger Geld bekommt als etwa der Stadtstaat Berlin mit 135,7 Millionen Euro. Für 2023 wird das Land Niedersachsen diese Summe nochmal um 160 Millionen aus dem Nachtragshaushalt aufstocken, womit den niedersächsischen Unternehmen also Einnahmeausfälle von insgesamt 280 Millionen Euro ausgeglichen werden können. Wie genau das Geld verteilt werden soll, ist allerdings weiterhin unklar.
Bundesrat und Bundestag sind zur Einigung verdammt
Das Gesetzgebungsverfahren liegt jetzt zwischen Bundesrat und Bundestag und wird in den Ausschüssen vermittelt. Michael Kaiser ist zuversichtlich, dass es zu einer Lösung kommen wird. „Wenn das Gesetz jetzt noch durch den Vermittlungsausschuss geht, wird es mit einer Abstimmung im Bundesrat schwierig“, sagt der GVN-Geschäftsführer. Der Bundesrat trifft sich vom 1. Mai nur noch einmal zu einer Plenarsitzung und zwar am 31. März. Am morgigen Donnerstag hat Olaf Lies zu einem weiteren Austausch mit den Interessengruppen ins Wirtschaftsministerium eingeladen, um über den aktuellen Stand zum Deutschlandticket zu berichten. Es ist das dritte Treffen dieser Art. Zu den Teilnehmern gehören GVN, VDV, die kommunalen Spitzenverbände aus Niedersachsen sowie die Landesnahverkehrsgesellschaft und die Niedersachsentarif GmbH (NITAG).
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