Alle paar Jahre erlebt auch der Landtag Situationen, die dann von Betrachtern als „historische Stunde“ bezeichnet und so später auch in die Geschichtsbücher geschrieben werden. Wenn eine neue Fraktion einzieht, ein langjähriger Regierungschef abtritt oder das Parlament sich selbst auflöst beispielsweise. Bisher spürte man das Ungewöhnliche meist nur an der angespannten Atmosphäre. Eine historische Stunde aber, die sich zusätzlich stark in Äußerlichkeiten ausdrückt, hat es gestern wohl zum ersten Mal gegeben.

Abstand halten: Im März-Plenum des Landtags wurde nur jeder dritte Sitzplatz verwendet. – Foto: kw

Wegen der Corona-Krise sind landesweit Versammlungen verboten, doch die Fraktionen hatten sich vergangene Woche rasch verständigt: Sie wollten auch in einer Ausnahmesituation ihre Handlungsfähigkeit beweisen. Oder, wie es CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer sagte: „Ich würde mich zu Tode schämen, wenn sich das Parlament wegducken würde, während die Verkäuferin im Supermarkt weiter ihren Kopf hinhalten muss.“ So sah es die große Mehrheit und es fand in dieser Krisenzeit am gestrigen Mittwoch eine Parlamentssitzung statt – eine Sitzung der Seltsamkeiten.

Kaum Mitarbeiter, keine Zuschauer, viel Abstand

Zunächst war der Stab an Mitarbeitern von Ministern und Fraktionen vorher angewiesen worden, bitteschön möglichst weg zu bleiben. Zuschauer waren diesmal gar nicht zugelassen, und die Staatssekretäre und Abteilungsleiter auch nicht. Die übrigen Teilnehmer – Abgeordnete, Journalisten und Mitarbeiter der Parlamentsverwaltung – wurden so weit auseinandergesetzt, dass zwischen je zwei Personen immer ein Abstand von mindestens zwei Metern gewahrt wurde. So musste ein Teil der Abgeordneten in die Logen ausweichen, andere bekamen Sitzplätze ohne Tisch oder ganz am Rande des Plenarsaals, wieder andere wichen sogar auf die erhöhten Besuchertribünen aus.


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Der Platz jedes Abgeordneten war mit gelben Zetteln markiert, versehen jeweils mit dicken schwarzen Nummern. Auf den Sitzplätzen dazwischen lagen weiße Blätter mit der Aufschrift „Bitte Abstand halten!“ Die Landtagsverwaltung verteilte vorher neue Kugelschreiber, damit im Fall von schriftlichen Abstimmungen auf jeden Fall diese benutzt werden. Und es zog ein Team von Mitarbeitern der Parlamentsverwaltung durch die Reihen, ausgestattet mit Handschuhen und Spritzflaschen von Desinfektionsmitteln. Nach jeder Rede wurde das Pult eingesprüht und abgewischt, die Schaumstoffhüllen an den Mikrophonen wurden ständig ausgewechselt.

Einsatz der Helfer wirkte unfreiwillig komisch

Der Einsatz dieser Helfer wirkte zuweilen unfreiwillig komisch, aber auch hin und wieder besorgniserregend. Landtagssitzungen sind meistens launige und leidenschaftliche Zusammenkünfte, da wird gestritten und geflucht, geschimpft und gejubelt, man steckt die Köpfe zusammen und verzieht sich in eine Ecke zum vertrauten Zwiegespräch. All das war gestern nicht möglich, der Plenarsaal vermittelte streckenweise die Sterilität eines riesigen Bettensaals einer Klinik, den strengen Geruch des Desinfektionsmittels inclusive.

Der Einsatz dieser Helfer wirkte zuweilen unfreiwillig komisch, aber auch hin und wieder besorgniserregend. – Foto: kw

Immerhin strahlte die Sitzanordnung in einigen Details einen geradezu ulkigen Eindruck aus. Da gab es einige Abgeordnete, für die kein Tisch mehr übrig war – und wieder andere, die auf den Besuchertribünen wie abgeschoben wirkten. An der Regierungsbank musste Innenminister Boris Pistorius erst über Eck am Kopfende der Tischreihe sitzen, damit er genügend Abstand zu Wirtschaftsminister Bernd Althusmann hält. Anderthalb Stunden lang hielt er das dort aus, dann wurde es Pistorius zu bunt und er wich auf den freien Platz aus, auf dem sonst  immer die persönliche Referentin des Ministerpräsidenten sitzt.

Es herrschte ein Stille wie selten zuvor

In den vergangenen Tagen machte der Spruch die Runde, die Gesellschaft müsse jetzt die Distanz zueinander vergrößern, um enger zusammenhalten zu können. Diese Landtagssitzung war der Beleg dafür, dass das in der Politik auch in der Praxis klappen kann. Es herrschte eine Stille wie selten zuvor im Plenarsaal, was nicht daran liegt, dass nur 118 der 137 Abgeordneten gekommen waren und sowohl die Mitarbeiter wie auch die Zuschauer fehlten. Nein, offenbar steigerte die Notlage auch die Bereitschaft zum gegenseitigen Zuhören.

Zwischenrufe waren kaum zu vernehmen, und selbst die AfD-Vorsitzende Dana Guth, die es eigentlich gewohnt ist, mit reichlich Bemerkungen aus dem Plenum bedacht zu werden, konnte vor einem völlig aufmerksamen Auditorium vortragen. Landtagspräsidentin Gabriele Andretta sah sich angesichts der vorbildlichen Stille, die dann auch an eine Hochschulvorlesung erinnerte, zu einem Lob herausgefordert: „Das ist ja eine Ruhe und Stille hier, an die man sich ja direkt gewöhnen kann.“

Auch die Opposition lobte die Landesregierung

Dass dies der Tag des Zusammenhalts ist, verdeutlichten auch die Redner in der Aussprache zur Regierungserklärung von Ministerpräsident Stephan Weil. Der Regierungschef sprach von der außergewöhnlichen Notsituation, die ihn und andere Ministerpräsidenten bisher ungeahnten Einschränkungen von Bürgerrechten und Freiheiten veranlasst habe. Man dürfe die Lage „weder dramatisieren noch beschönigen“, sagte Weil. So groß die Zumutungen für die Bevölkerung seien, so sehr werde die Polizei zum Schutz gegen die Viren-Verbreitung „mit aller Konsequenz für die Einhaltung der Vorschriften sorgen“.

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Von mehreren Rednern, auch der Opposition, bekam Weil für sein Verhalten und sein Auftreten ein ausdrückliches Lob. „Vielen Dank, Stephan Weil“, sagte Julia Hamburg (Grüne), die Regierung kommuniziere „besonnen, klar und deutlich“. Johanne Modder (SPD) dankte der Regierung „für ein klares Signal der Geschlossenheit und der Handlungsfähigkeit“. Stefan Birkner (FDP) verknüpfte die Dankesadresse an Weil mit zwei Einschränkungen. Erstens erwarte er, dass das Parlament bei derartig schweren Grundrechtseingriffen künftig noch stärker als bisher beteiligt wird, zweitens sei Vize-Ministerpräsident Bernd Althusmann mit einigen Botschaften vorgeprescht und habe einen verwirrenden Eindruck vermittelt.

Dirk Toepffer (CDU) dankte der Opposition und wurde grundsätzlich. Die gute Seite dieser Krise sei, dass man Selbstverständlichkeiten wieder schätzen lernen könne – beispielsweise überall einkaufen zu können, sich überall treffen zu können oder überall essen gehen zu können.

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Auch den Wert der Landwirtschaft, die nötigen Nahrungsmittel zu produzieren, lerne man jetzt anders kennen – und im Dauerstreit um die Düngeverordnung könne man jetzt „zu ganz eigenen Ergebnissen kommen“. Dana Guth (AfD) warf der Regierung zwar vor, zu spät den Ernst der Corona-Krise erkannt zu haben, sie hob dann aber die „Ruhe und Unaufgeregtheit der Landesregierung“ hervor. Alle sollten sich, so betonte Guth, „jetzt uneingeschränkt hinter den Ministerpräsidenten stellen“.

Derart mental zusammengerückt hat man den Landtag, während die Abgeordneten körperlich ihren Abstand maximal vergrößert haben, noch nie erlebt. Anschließend kam die Zweidrittelmehrheit für die Ausnahme von der Schuldenbremse zustande, alle 118 anwesenden Abgeordneten waren dafür. Auch der Nachtragshaushalt mit dem 1,4-Milliarden-Programm wurde einstimmig beschlossen. (kw)