Der Parlamentsbetrieb ist für Krisen nicht geschaffen
Selten waren Grüne und FDP als Oppositionsparteien im Landtag mit einem Vorstoß so schnell und so durchschlagend erfolgreich wie in der vergangenen Woche. Einen Tag, nachdem beide eine Sondersitzung des Landtags zur Corona-Krise beantragt hatten, beeilten sich SPD und CDU, das Vorhaben ausdrücklich zu unterstützen. Und die AfD begrüßte es ebenfalls. Da drückte sich parteiübergreifend eine tiefe Sehnsucht aus: Ja, bitte, lasst und endlich wieder tagen!
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Die Abgeordneten, so wurde deutlich, leiden unter der Corona-Krise. Als das alles losging Anfang März, hatte es die klare Losung gegeben – wir halten uns mit Sitzungen von Ausschüssen und anderen Gremien zurück, wir wollen nicht zur erhöhten Ansteckungsgefahr beitragen, die automatisch dann größer wird, wenn die Volksvertreter aus allen Teilen des Landes in Hannover zusammentreffen. „Social Distancing“ hieß hier so viel wie: Verzicht auf öffentliche Sitzungen und größere Zusammenkünfte, Beschränkung des eigenes Wirkens auf die Arbeit im Hintergrund und in kleinen Kreisen – über Telefonate und Videokonferenzen.
Nun dauert das alles schon fast anderthalb Monate, und die Nachteile des parlamentarischen Wirkens auf Sparflamme in dieser Zeit werden immer offenkundiger:
Der Fluch der Videokonferenzen: Arbeitskreise, Vorstände und Arbeitsgruppen, aber auch Ministerrunden finden oft nur per Skype und über Video-Schalten statt. Einige Teilnehmer berichten über unerwartete Verläufe: Man komme viel schneller zum Ergebnis, weil die Diskussionen viel zielorientierter sind. Ob die Resultate gleichzeitig besser sind, bezweifeln viele: „Die Teilnehmer tragen nur vor, was sie sich vorher schon vorgenommen hatten“, berichtet ein Politiker. Die gegenseitige Befruchtung, das Eingehen auf die Argumente der anderen, das kreative Diskutieren über eine heikle These oder das intensive Durchdringen eines Gedankens – all das fehle jetzt. Man kann an der Mimik und Gestik aller Teilnehmer nicht mehr ablesen, wie aufmerksam alle gerade sind. Zum anderen wird bei Video-Konferenzen das Umfeld der Teilnehmer ausgeblendet – sind dort vielleicht andere anwesend, die nicht zuhören sollten oder die den, der vor dem Gerät sitzt, in Wahrheit ständig ablenken? In heiklen Situationen, wenn es um das Überzeugen von Zweifelnden geht, kann ein Video-Gespräch oft keinen Erfolg bescheren. Man merkt nicht, ob jemand einlenkt oder nur so tut, als ob er es täte. Das ist bei realen Zusammenkünften viel einfacher.
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Der Fluch des wachsenden Misstrauens: Wenn die häufigsten Kontakte zwischen den Politikern über Telefonate und Videokonferenzen laufen, persönliche Treffen aber ausdrücklich auf das nötigste Maß begrenzt werden sollen, wächst automatisch das Misstrauen. Das Gegenteil, Vertrauen, hängt nämlich oft von der Vertrautheit ab, also von regelmäßigen direkten Kontakten. Anfang April wurde das Problem merkwürdigerweise deutlich im Verhältnis zwischen Landtagsfraktionen und der Landespressekonferenz (LPK), zwei Gruppen, die sich sonst ständig begegnet sind, derzeit aber nur noch selten: Viele Abgeordnete spürten ihr Defizit an öffentlichen Auftritten und neideten dies den Journalisten, die täglich in einer Pressekonferenz vor einem wissbegierigen Publikum ihre Fragen an den Krisenstab der Regierung stellen konnten. Früher, in normalen Zeiten, wäre ein solcher Konflikt nie eskaliert.
Der Fluch der raschen Entscheidungen: Der normale parlamentarische Weg braucht Zeit. Ein neues Gesetz wird in den Ausschüssen und Arbeitskreisen diskutiert, von den Abgeordneten gemeinsam mit Verbandsvertretern abgewogen und kritisiert, dann juristisch bewertet und schließlich, ganz am Ende, vom Parlament beschlossen. All das ist derzeit nicht möglich. Der Takt der politischen Entscheidungen wird von der Entwicklung des Anstiegs der Corona-Infektionen bestimmt. Rechtsvorschriften, die tief in das Alltagsleben der Menschen eingreifen, Freiheitsrechte außer Kraft setzen, Betriebe in ihrer Existenz gefährden und den Staat mit riesigen neuen Schulden belasten, werden innerhalb weniger Tage entworfen und verkündet, oft dann kurz darauf in Details wieder korrigiert. Die Krise erfordert eiliges Handeln. Das ausdifferenzierte parlamentarische System mit vielen Fachausschüssen und Fach-Arbeitskreisen kann mit diesem neuen Tempo nicht Schritt halten, daher kommt eine parlamentarische Kontrolle oft viel zu spät und zeitverzögert. Eine Ersatzlösung, etwa einen von den Grünen geforderten „Corona-Ausschuss“ als ständigen Begleiter, hat die Landtagsmehrheit bisher nicht beschlossen. Nun zeigt sich: Nirgendwo sonst wird die alte Weisheit, eine Krise sei „die Stunde der Exekutive“, deutlicher als hier.
Der Fluch des öffentlichen Interesses: In Niedersachsen hat sich schnell herumgesprochen, dass fast täglich neue Verordnungen verhängt oder alte geändert werden – häufig mit weitreichenden Konsequenzen für viele Gruppen. So hat sich die Aufmerksamkeit auf die täglichen Pressekonferenzen verlagert, die live übertragen und von vielen Menschen am Bildschirm gesehen werden. Auf einmal richtet sich ein großes öffentliches Interesse auf diese Termine, bei denen das Parlament, das bisher Anziehungspunkt für politische Debatten war, keine Rolle spielt. Ein wenig haben diese Pressekonferenzen den Neuigkeitswert wie in der DDR im Herbst 1989, als Politbüromitglied Günter Schabowski die täglichen Beschlüsse verkündete – unter anderem auch die Öffnung der Grenzen. In ihren Wahlkreisen werden die Abgeordneten überhäuft mit Problemen von Menschen, die von den Corona-bedingten Einschränkungen stark betroffen sind. Viele Politiker haben einen riesigen Aufwand, die Leute zu beruhigen – aber die öffentliche Anerkennung dafür hält sich unter den gegenwärtigen Bedingungen in Grenzen. Als Helden werden Pfleger und Verkäufer verehrt, nicht aber die Volksvertreter.
Der Fluch der entlarvten Rituale: Mitunter wird in der aktuellen Krise deutlich, wie stark die Landtagsarbeit bisher, vor der Corona-Zeit, von Symbol- und Bekenntnispolitik geprägt war. Sie hatte viele entbehrliche Rituale. Das sind etwa Entscheidungen, mit denen weniger Probleme bewältigt werden, sondern in denen die Fraktionen ihre eigenen guten Absichten zum Ausdruck bringen wollen. Ein Beispiel geistert derzeit noch durch die Landtagsberatungen: Der Antrag von SPD und CDU, bestimmte Autokennzeichen wie „HH 88“ oder „AH 1933“ zu verbieten (NS und SS sind schon verboten) zeugt davon. Wie wichtig erscheint dieses Anliegen gegenwärtig im Zeichen der Probleme, die die Corona-Krise mit sich bringt?
Der Landtag will jetzt zurück in die alte Normalität: Die Pressekonferenzen sollen nicht mehr täglich sein, dafür werden die Fachausschüsse wieder häufiger tagen. Die Abgeordneten fordern ihr Recht auf öffentliche Debatte und Streit ein. (kw)