Darum geht es: Im Wendland haben 60 teils vermummte Linksextremisten das Wohnhaus eines Polizisten belagert – und damit eine Welle der Empörung ausgelöst. Wie weit darf die politische Auseinandersetzung gehen? Ein Kommentar von Klaus Wallbaum.

Wohltuend ist die Einigkeit, mit der die Politiker auf die Vorfälle kurz vor Pfingsten im Kreis Lüchow-Dannenberg reagiert haben. Die Verurteilung ging quer durch alle politische Lager. Auch die Grünen, gemeinhin der Protestbewegung im Wendland wohlgesonnen, äußerten sich entsetzt. Ihr Innenpolitiker Belit Onay sprach von „Wildwest-Methoden“.

Das klingt allerdings schon wieder verniedlichend. „Wildwest-Methoden“ sind Cowboy- und Indianerspiele, das in etlichen Spielfilmen ausgebreitete Kräftemessen zweier Gruppen, der Kampf Mann gegen Mann. Was vor dem Wohnhaus eines Polizisten geschah, ist weit mehr als das – die Demonstranten versuchten die gezielte Einschüchterung. Frau und Kinder des Polizisten sollten spüren, dass die Teilnehmer der Kundgebung ihnen ganz nah gekommen sind. Wie anders kann man das verstehen als eine Warnung an den Polizisten: Pass auf, wir haben Dich im Blick, wir suchen Dich in Deinem privaten Lebensumfeld auf! Was ist das anderes als eine Bedrohung?


Lesen Sie auch: 

Die Empörung ist so groß und parteipolitisch übergreifend, weil das Opfer ein Polizist ist, der nur seinen Dienst versehen hat – und weil der Druck auf ihn stellvertretend geschieht. Wer einen Polizisten angreift, greift den Staat an. Hier muss der Staat Einhalt gebieten, er hat es überzeugend getan. Eine Alternative gab es nicht, ebenso wenig wie vor wenigen Tagen im baden-württembergischen Ellwangen, wo Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft eine Abschiebung verhinderten und die Polizei zunächst weichen musste. Sie kam wieder und setzte das Recht durch – so, wie es zu geschehen hat. Im Kreis Lüchow-Dannenberg folgte die Reaktion der Polizei umgehend, ohne Zeitverzögerung. Ist das nun ein Grund, sich zufrieden zurückzulehnen, weil ja alles gut gegangen ist?

Zur politischen Kultur, wie wir sie pflegen, gehört der Respekt vor der dem privaten Rückzugsraum jedes Teilnehmers der Debatte oder auch jedes Vertreters der Staatsgewalt.

Nein, denn das Problem, das mit den Vorgängen am Wochenende deutlich wurde, sitzt wesentlich tiefer. Es lässt sich beschreiben auf der einen Seite mit zunehmender Respektlosigkeit gegenüber allen Ordnungshütern, ob es nun Polizisten, Feuerwehrleute oder Rettungssanitäter sind. Das ist der eine, höchst beunruhigende Trend. Der zweite, nicht minder schwerwiegende besteht in einer Verschiebung des politischen Diskurses: Immer öfter fällt auf, dass Gruppierungen es sich herausnehmen, ihre Gegner öffentlich an den Pranger zu stellen und ihre Privatsphäre ganz bewusst zu verletzen.

Zur politischen Kultur, wie wir sie pflegen, gehört aber der Respekt vor der dem privaten Rückzugsraum jedes Teilnehmers der Debatte oder auch jedes Vertreters der Staatsgewalt. Wie ist es darum bestellt? Wenn der bei vielen hoch angesehene Satiriker Jan Böhmermann Listen von rechtsextremen und konservativen Publizisten zusammenstellt und sie – quasi als warnendes, abschreckendes Beispiel – veröffentlicht, geschieht jene Ausgrenzung, die einen offenen Dialog unmöglich macht. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur persönlichen Diffamierung und Belästigung. Vor Jahren waren linksradikale Aktivisten stolz, eine AfD-Mitgliederliste samt Telefonnummern und Mailadressen erspäht zu haben. Sie wollten sie sogar veröffentlichen, ihre Gegner damit bloßstellen. Und sie meinten, im Interesse der guten Sache dies auch tun zu dürfen.

Auch Beispiele für Vergleichbares zu dem, was sich jetzt im Wendland ereignete, gibt es mehrere. 2015 organisierten Rechtsextreme im kleinen Ort Tröglitz bei Leipzig regelmäßige Aufmärsche vor das Wohnhaus des dortigen Bürgermeisters Markus Nierth, der sich zuvor für die Aufnahme von 40 Flüchtlingen eingesetzt hatte. Nierth spürte den Druck und wich aus, er trat irgendwann entnervt zurück. 2017 mietete das „Zentrum für politische Schönheit“ ein Grundstück in der Nachbarschaft des Wohnhauses von AfD-Rechtsaußen Björn Höcke im thüringischen Bornhagen und errichtete darauf ein Mahnmal, das an das Holocaust-Denkmal erinnern sollte. Gleichzeitig kündigten die Akteure an, sie würden Höcke „seit Monaten beobachten und Informationen sammeln“. Sie verklärten das seinerzeit als „Kunstaktion“, eine ähnliche Erklärung wie die vom „spontanen Straßenmusikkonzert“, die jetzt im Wendland zu hören war. Wo war die Empörung dieses Vorgehens vor Höckes Wohnhaus? War sie deshalb nur ganz vage zu vernehmen, weil Höcke kein Sympathieträger ist und selbst mit unvertretbaren Äußerungen einen politischen Diskurs unmöglich macht?

Allmählich wird es Zeit, über Möglichkeiten und Grenzen der öffentlichen Debatte zu reden. Gerade heute, am Tag des Grundgesetzes. Ein vertretbarer Konsens liegt nah: Was immer ich an meinem Gegner auszusetzen habe – ich achte seine Privatsphäre und achte ihn als Mensch, ich verzichte darauf, ihn an den Pranger zu stellen oder unter Druck zu setzen. Seine Meinung mag ich mit allen erlaubten Mitteln bekämpfen und verurteilen, seine persönliche Würde und seine Rechte aber muss ich respektieren. Das klingt eigentlich sehr einfach – und ist es derzeit für viele Menschen offenbar nicht.

Mail an den Autor dieses Kommentars