Von Isabel Christian

Kampfgeist sagt man den Menschen nach, die im Sternzeichen Löwe geboren wurden. Es gibt wohl kein Sternzeichen, das besser zu Lukas Seidel passen würde. Der 27-Jährige ist kleinwüchsig und leidet unter einer schweren Stoffwechselerkrankung. Schuld ist ein seltener Gendefekt namens Mukopolysaccharidose, kurz MPS. Vor sechs Jahren wurde er operiert, doch den Ärzten unterlief ein Fehler. Seitdem ist Seidel von der Hüfte abwärts gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Doch der junge Mann will kein Leben führen, das Tag und Nacht nur um seine Gesundheit kreist. Er hat sich selbstständig gemacht, fährt Auto und wagt sich nun in einen politischen Wettbewerb. Seidel fordert für die CDU bei der Landtagswahl Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) im Wahlkreis 18 (Northeim) heraus. Eigentlich ein aussichtsloses Unterfangen, denn der Wahlkreis ist eine absolute Hochburg der Sozialdemokraten. Seidel schert das wenig.

Lukas Seidel tritt bei der Landtagswahl in Northeim für die CDU an. Foto: Christian

Ein idyllisches Haus mit Garten am Sultmer-Berg, von der Terrasse aus hat man freien Blick auf die Northeimer Seenplatte. Lukas Seidel und sein zwei Jahre jüngerer Bruder bewohnen das Erdgeschoss, in der Mitte wohnt der Vater, im Obergeschoss die Großeltern. „Es ist schön, so nah bei der Familie zu sein und doch sein eigenes Reich zu haben“, sagt Seidel. Politik und Familie sind für ihn seit jeher verbunden. Sein Vater war Stadtrat und stellvertretender Landrat für die Grünen gewesen, oft tagten die Parteimitglieder bei ihnen zu Hause. „Ich fand das immer interessant.“ Als Siebzehnjähriger trat auch Seidel einer Partei bei, den Grünen. Doch die Partei und er entfremdeten sich mit den Jahren. „Irgendwann merkte ich, dass meine politischen Vorstellungen und die meiner Partei nicht mehr zusammenpassten.“

Doch dann kam eine Zeit, in der Seidel nur wenig Zeit für politisches Engagement hatte. Die Krankheit, unter der er leidet, ist bislang nicht heilbar. Ihm fehlt ein Enzym im Körper, das Zuckermoleküle abbaut. Diese lagern sich im Körper ab und blockieren die Arbeit der Zellen. Um diesen Prozess zu verlangsamen, wurde Seidel 2011 operiert. Dabei schädigten die Ärzte jedoch seine Wirbelsäule. „Seitdem sitze ich im Rollstuhl.“ Es liegt keine Wut oder Trauer in seiner Stimme, wenn Seidel von diesem Wendepunkt in seinem Leben erzählt. Er bleibt sachlich, hat den Unfall und die Folgen akzeptiert. „Ideal ist die Lebensqualität damit zwar nicht, aber ich bin ganz zufrieden.“ Denn anstatt sein Leben nach der Behinderung auszurichten, hat er in ihr einen Ansporn gefunden. „Das meiste in meinem Leben habe ich als Querschnittsgelähmter erreicht.“ Knapp zwei Monate nach der Operation wurde er aus dem Krankenhaus entlassen, anderthalb Monate später trat er seine Ausbildung bei der Arbeitsagentur an. Er wurde Mitglied im Inklusionsbeirat der Stadt Northeim, engagierte sich in vielen Gruppen und Verbänden für Behinderte.

Wer könnte besser Inklusionspolitik machen als ich? – Lukas Seidel, CDU-Landtagskandidat

Vor der Bundestagswahl 2013 sprach der damalige Northeimer CDU-Kandidat Roy Kühne ihn an. „Kühne wollte mich als Berater für Inklusion in seinem Wahlkampfteam.“ Seidel sagte zu. Und trat ein paar Monate später der Jungen Union bei. „Das war für mich der richtige Schritt.“ Doch jetzt wird die Politik für ihn zur Kraftprobe. Die heiße Wahlkampfphase hat just begonnen, und Seidel hat vor, die Vormachtstellung der SPD in Northeim zu brechen und womöglich gar einen Sitz im Landtag zu gewinnen. Dass er im Rollstuhl sitzt und kleinwüchsig ist, empfindet er dabei nicht als Nachteil. „Wer könnte besser Inklusionspolitik machen als ich?“ Zudem weiß Seidel, dass es Vorteile haben kann, auf den ersten Blick anders zu sein. Seine Kandidatur für den Landtag hänge damit zusammen. „Die Junge Union hat mich aufgestellt, weil ich auffalle“, sagt er. „Und die CDU hat mich gewählt, weil ich jung bin.“

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Allerdings erlebt er auch Ablehnung. „In meiner Zeit bei der Arbeitsagentur kam es öfter vor, dass Leute von mir wegen meiner Behinderung nicht beraten werden wollten.“ Ein Mann ist ihm dabei besonders im Gedächtnis geblieben. Vor allen Kunden und Mitarbeitern in der Empfangshalle sagte er zu Seidel, von einem Behinderten wolle er nicht beraten werden, der könne ja nicht kompetent sein. Die Kollegen taten daraufhin, als sei der Mann gar nicht da. Stundenlang saß der Mann im Wartebereich, ohne dass sich jemand um ihn kümmerte. „Gegen Mittag bin ich dann zu ihm hingerollt und habe gefragt, ob er es sich nicht anders überlegt hat. Da ist er mitgekommen“, sagt Seidel. „Und hat sich anschließend für die gute Beratung bedankt.“

Ich nehme nur Termine an, die mir einen Mehrwert geben. – Lukas Seidel, CDU-Kandidat

Seidels Alltag ist klar strukturiert, daran würde sich auch wenig ändern, wenn er in den Landtag gewählt werden würde. Morgens um sieben klingelt der Wecker, dann macht Seidel sich fertig für ein Seminar, das er als selbstständiger Berater für Langzeitarbeitslose leitet, oder für einen Wahlkampftermin. Nachmittags stehen meist zwei Termine an. „Ich nehme nicht alles an“, sagt er. „Nur das, von dem ich glaube, dass es mir Spaß macht und einen Mehrwert bringt.“ Einen Grundsatz, den er in der Ausbildung gelernt hat. Als Abgeordneter müsste er ihn selbstredend einschränken. „Ich habe mich aktiv für die Landespolitik entschieden, also muss ich akzeptieren, dass gewisse Termine vorgegeben sind.“ Die Freiheit von einem Tag ohne Termine würde er sich aber herausnehmen müssen. Momentan ist das der Donnerstag. Denn da muss Seidel ins Krankenhaus. Seit einiger Zeit gibt es ein künstliches Enzym, das das Fortschreiten seiner Krankheit verlangsamt. Das muss er einmal in der Woche injiziert bekommen. Sechs Stunden liegt er dann in der Klinik, liest auf dem iPad oder schläft. „Dieser Medikamentencocktail haut einen ganz schön um “, sagt Seidel. „aber dafür bin ich am nächsten Tag topfit.“

Das ist wohl eine der ungewöhnlichsten Geschichten aus diesem Landtagswahlkampf, der noch gar nicht richtig begonnen hat.