„Das Kontrollrecht des Parlaments steht auf dem Spiel“
Der Fall ist überaus heikel – und juristisch hoch umstritten. Wenn die Justiz gegen Landtagsabgeordnete ermitteln will, muss der Landtag vorher ihre Immunität aufheben. Normalerweise ist das, sofern es etwa Verkehrsdelikte angeht, eine Formsache. Doch der SPD-Landtagsabgeordnete Ronald Schminke aus Hann. Münden, der Missstände in einem Pflegeheim angeprangert und die Bonität der Heimleitung in Frage gestellt hatte, wurde wegen Verleumdung angezeigt. Soll nun Schminkes Immunität aufgehoben werden? Die FDP ist dafür, SPD und Grüne sind dagegen, die CDU ist gespalten. Heute will der Ältestenrat eine Empfehlung abgeben, morgen soll der Landtag entscheiden. Seit gestern Abend liegt ein Gutachten der Landtagsjuristen vor. Der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst (GBD) meint, dass die Verweigerung der Genehmigung (also das Aufrechterhalten von Schminkes Immunität) ein Fehler wäre. Denn es gehe um den Verleumdungsvorwurf – und bis 2008 habe es eine generelle Regel gegeben, dass immer, wenn ein Abgeordneter wegen Verleumdung angezeigt wurde, die Justiz automatisch habe ermitteln dürfen. Erst seit 2008 sei das anders. Der GBD meint nun, es müssten „besonders gewichtige Gründe vorliegen“, wenn der Landtag trotz eines Verleumdungsvorwurfs an der Immunität festhalten wolle. Im Fall Schminke könne man aber diese gewichtigen Gründe nicht erkennen – und damit wachse die Gefahr, dass der Landtag politisch motivierte verleumderische Beleidigungen, die Abgeordnete aussprechen, toleriere. Soweit das GBD-Gutachten. Eine andere Meinung in diesem Fall vertritt Grant Hendrik Tonne, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion. Er äußert sich im Interview mit Klaus Wallbaum:
Rundblick: Herr Tonne, schaffen Sie nicht zweierlei Recht, wenn Sie in diesem Fall den Abgeordneten Schminke vor einer Strafverfolgung bewahren – während jeder andere Bürger diesen Schutz nicht genießt?
Tonne: Nein. Denn es geht nur mittelbar um die Äußerungen des Herrn Schminke. Dahinter liegt das Recht des Parlamentes als Ganzes, Missstände öffentlich zu benennen, ohne gleichzeitig Gefahr zu laufen, dafür an den Pranger gestellt oder mit Strafanzeigen eingeschüchtert zu werden. Das Parlament als Volksvertretung hat eine besondere Rolle bei der Darstellung von Mängeln und Fehlentwicklungen in der Gesellschaft. Deshalb genießt es auch einen besonderen Schutz. Gäbe es die Immunität nicht, so könnten alle Abgeordneten, die Probleme benennen, von der Justiz verfolgt werden und auf diese Weise in die Ecke gedrängt werden. Das müssen wir verhindern. Die Immunität verhindert, dass die Abgeordneten in ihrer Arbeit zu zahnlosen Tigern werden.
Rundblick: Aber Herr Schminke wirkt doch nun gar nicht eingeschüchtert…
Tonne: Das kann nicht der Maßstab sein. Die Immunität gilt doch unabhängig davon, ob es sich um einen sehr sensiblen oder sehr robusten Politiker handelt. Es geht um das Prinzip: Wer als Mitglied eines Parlamentes Missstände beim Namen nennt, soll dafür nicht verfolgt werden können – denn das würde sonst das Parlament als Kontrollorgan insgesamt schwächen. Das ist gemeint, wenn die Abgeordneten als „Anwälte der Bürger“ bezeichnet werden.
Rundblick: Also kann Herr Schminke, wenn Sie sich durchsetzen, in völliger Freiheit alles sagen, was er denkt – im Unterschied zu allen Nicht-Parlamentariern?
Tonne: Nein, ganz bestimmt nicht. Wenn Herr Schminke am Gartenzaun seinen Nachbarn beleidigen würde – was er sicher nie täte -, würde nach einer möglichen Strafanzeige sofort die Immunität aufgehoben. Hier aber handelt es sich nicht um eine Privatfehde, sondern darum, dass der Abgeordnete Schminke als Volksvertreter schlimme Zustände in einem Pflegeheim deutlich benannt hat und so etwas ohne jede Beschränkung oder Bedrohung durch das Strafrecht machen können muss. Hier ist Schminke in seiner Rolle als Abgeordneter berührt.
Rundblick: Aber die Anzeige bezieht sich doch auf Verleumdung. Angeblich habe Schminke den Heimbetreiber wider besseres Wissen verächtlich gemacht und ihm damit Schaden zugefügt. Ist der Vorwurf nicht so weitgehend, dass die Justiz ihn unbedingt prüfen müsste – ganz im Unterschied zur einfachen Beleidigung oder üblen Nachrede? Außerdem ging es doch nicht nur um die Missstände in dem Heim, sondern um den Vorwurf, der Heimbetreiber sei im Grunde pleite. Und das ist doch ein sehr weitgehender Vorwurf, oder?
Tonne: Der Urheber der Anzeige entscheidet doch, welche Form er wählt. Nähmen wird an, nur der Vorwurf der Verleumdung würde zur Aufhebung der Immunität führen, der der üblen Nachrede aber nicht, so gäbe es bestimmt geschickte Anwälte, die immer gleich von Verleumdung sprechen und damit ein Verfahren erzwingen würden. Die Staatsanwaltschaft könnte aber zunächst gar nicht prüfen, wie berechtigt der Vorwurf wäre, da sie ja schon zu Beginn des Verfahrens mit der Immunität konfrontiert ist. Vielleicht müsste man hier langfristig die Vorschriften so verändern, dass die Justizbehörden bis zu einer gewissen Stufe schon mal eine Vorprüfung einleiten können – um erst einmal zu sondieren, worum es eigentlich geht und wie berechtigt die Anzeige überhaupt ist. Außerdem gilt: Auch wenn sich die Anzeige gegen Schminkes Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Heimbetreibers richtet, geht es doch im Grunde darum, dass in einem Pflegeheim unzumutbare Zustände herrschen. Die Differenzierung führt hier also nicht weiter.
Rundblick: Aber versetzen Sie sich in die Lage des von Schminke beschuldigten Heimbetreibers. Vielleicht hat er ja Recht und wurde von Schminke zu Unrecht angegriffen. Hätte er dann gar keine Möglichkeit, sich dagegen juristisch zu wehren?
Tonne: Doch, er könnte ja von Schminke eine Unterlassungserklärung fordern, also zivilrechtlich gegen ihn vorgehen. Gegen solch ein Verfahren gäbe es keine Immunität. Aber das hat der Heimbetreiber hier nicht getan.