Die wachsende Zahl von Hass-Kommentaren in den sozialen Medien ist nur ein Ausdruck einer veränderten politischen Landschaft – in Deutschland und nicht nur hier. Politiker berichten, dass die Verständigung über neue Vorhaben immer schwieriger wird, dass die Fähigkeit zum Kompromiss spürbar nachgelassen hat. Brauchen wir für die Zukunft neue Formen der politischen Kommunikation? Die Rundblick-Redaktion widmet sich dem Thema in einem Pro und Contra.

Foto: Politikjournal Rundblick

PRO: Die Parteien verlieren Mitglieder, den großen Verbänden wird die Interessenvertretung nicht mehr automatisch von allen zugetraut. Es gibt eine neue Unübersichtlichkeit, die demokratische Prozesse erschwert, aber auch Chancen für neue kooperative Elemente in unserer Demokratie birgt, meint Martin Brüning.

Das eigentliche Übel unserer Zeit ist neben dem Hass, der sich vor allem in den sozialen Netzwerken, aber auch immer häufiger in der realen Welt Bahn bricht, die Tendenz zur Rechthaberei. Diskussionen werden, zumindest gefühlt, immer anstrengender, weil Menschen häufig den Prozess der eigenen Meinungsbildung, ob mit vielen oder wenigen Kenntnissen, recht schnell abgeschlossen haben und für neue Argumente nur noch wenig zugänglich sind. Zudem sind diejenigen, die meinen, ganz genau Bescheid zu wissen, auch bereit, ihre Meinung lautstark und deutlich kundzutun und zeigen einen großen Unwillen, andere Argumente gelten zu lassen. Obwohl das Internet unsere Möglichkeiten, uns zu informieren, stark erweitert hat, machen nicht alle von dieser Möglichkeit genügend Gebrauch. Meinung ist dennoch inzwischen überall und wird jederzeit und gerne vertreten, je prägnanter, desto besser. Das ist die schlechte Nachricht.

Man kann den alten, einfachen Zeiten nachtrauern, aber man wird anhand der Entwicklungen gar nicht umhinkommen, die bisherige repräsentative Demokratie kooperativer zu gestalten.

Die gute Nachricht ist allerdings, dass das natürlich nicht alle betrifft, sondern nur die besonders Lauten, die in Diskussionen auffallen. Insgesamt sind die Bürger mündiger geworden, haben Interesse daran, sich in Diskussionen einzubringen und akzeptieren nicht mehr mir nichts, dir nichts die über Jahrzehnte eingeschliffenen Wege der Entscheidungsfindung. Die etablierten Instrumente der repräsentativen Demokratie werden in Frage gestellt, und warum sollte es auch nicht so sein? „Mitten in der Nacht, in der Lobby ist noch Licht, die Dunkelmänner machen Politik“, sang Heinz Rudolf Kunze schon in der 80er Jahren, als man in großen Teilen der Bevölkerung noch dachte, dass „die da oben“ alles schon regeln würden. Aber die Zeiten, in denen Manager, Verbandsvertreter und „der Herr Minister“ sich abends bei einer Veranstaltung bei einem Glas Wein darüber verständigten, was denn nun zu tun sei, scheinen vorbei. Und das ist auch richtig so.

Zum einen gibt es genügend Beispiele, bei denen die Steuerung – gerade bei großen Vorhaben – versagt hat. Das betrifft sowohl die Politik, aber auch die Wirtschaft selbst, die sich in Teilen immer wieder gerne despektierlich über die Politik äußert, ohne selbst zum großen Vorbild zu taugen. Zum anderen ist der alte Top-Down-Modus nicht mehr angesagt. Nicht jede Entscheidung, die von oben kommt, wird automatisch hingenommen, sondern ob ihrer Sinnhaftigkeit in Frage gestellt. Dialog heißt das neue Zauberwort, und diesen muss man führen, bevor Entscheidungen getroffen werden und nicht erst im Anschluss daran. Wollten wir nicht alle den mündigen Bürger, der sich aktiv einbringt? Jetzt ist er da, und das ist vielen auch schon wieder nicht recht.


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Der Dialog wird zusätzlich durch eine gesellschaftliche Zerfaserung erschwert. Die Parteien verlieren Mitglieder, Gewerkschaften sind teilweise geschwächt, den großen Verbänden wird nicht automatisch von allen Betroffenen die korrekte Interessenvertretung zugetraut, dem Verband der Automobilindustrie (VDA) traut ja nicht einmal mehr die eigene Branche so richtig über den Weg. Zudem hinterfragen inzwischen immer mehr, wieviel wirkliche Stärke eigentlich hinter der Macht großer Interessenvertreter steckt. Wieviel Gewicht kann die Kirche in politischen Debatten als Institution noch haben, die zwar aufgrund der reinen Zahl der Mitglieder immer noch eine starke Gemeinschaft ist, diese Zahl sich aber in den Gottesdiensten und Aktivitäten nicht so recht wiederfindet? Wieviel Macht kann ein Automobilclub in der Politik für sich beanspruchen, der zwar über 20 Millionen Mitglieder hat, von denen sich die meisten aber vermutlich aufgrund des Pannenservices und nicht wegen der Vertretung von Autofahrerinteressen dem Club angeschlossen haben?


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Wenn die gesellschaftliche Realität komplexer wird, wird automatisch auch die Entscheidungsfindung komplexer. Das ist anstrengend und man kann es beklagen, jedoch wird sich die Uhr nicht zurückdrehen lassen. Wie sollen Parlamente gestärkt werden, die mit einer niedrigen Wahlbeteiligung zu kämpfen haben und in denen Abgeordnete sitzen, deren Parteien häufig immer mehr Mitglieder verlieren? Wie will man Verbände stärken, deren Zahl sich seit den 90ern um durchschnittlich fünf Prozent erhöht hat? Man kann den alten, einfachen Zeiten nachtrauern, aber man wird anhand der Entwicklungen gar nicht umhinkommen, die bisherige repräsentative Demokratie kooperativer zu gestalten. So wird die Zahl der Bürgerhaushalte und Bürgerforen wohl weiter steigen. Die Ministerpräsidenten werden durchs Land reisen, um direkt mit den Bürgern über aktuelle Fragen zu sprechen. Die Parlamentarier und Ministerien werden sich auch weiter mit mehr Gruppierungen als einst auseinandersetzen müssen. Das schließt nicht aus, Entscheidungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, wenn dies dennoch eine korrekte Beteiligung aller Gruppen impliziert. Politik wird auch künftig dadurch nicht leichter werden, aber für Dialog und Entscheidungsprozesse kann es dennoch der richtige Weg sein.

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CONTRA: Was wir nötig haben, ist weniger die Erfindung neuer Formen der Beteiligung. Vielmehr wäre eine Renovierung der Grundpfeiler politischer Kommunikation nötig – verbunden mit ein paar gravierenden Umbauten im Detail, meint Klaus Wallbaum.

Viele Landwirte sind gegenwärtig sehr verärgert über die Agrarpolitik in Deutschland – sie fühlen sich in ihren Berufsperspektiven bedroht. Das ist nicht neu, unzufriedene Bauern gibt es, solange es die Landwirtschaft gibt. Neu sind die Formen ihrer Unmutsäußerung: Manche belassen es nicht bei Kundgebungen, sie wollen lauter und deutlicher auftreten. Neulich zogen einige vor das Wohnhaus einer Kommunalpolitikerin in Cremlingen (Kreis Wolfenbüttel) und das eines Journalisten. Sie rückten beiden „auf die Pelle“, wie es umgangssprachlich heißt. Anders ausgedrückt: Sie versuchten, die Frau aus der Politik und den Mann aus den Medien einzuschüchtern. Laut, eindringlich und sicher auch angsteinflößend.

Wie weit ist es gekommen in Deutschland? Es scheint, als gebe es mittlerweile einen Wettlauf in den Versuchen, die eigene Ansicht möglichst laut zu Gehör zu bringen – und die abweichende Meinung der anderen zu übertönen. Das macht sogar vor Hochschulen nicht Halt, wo vorgeblich freiheitsliebende Studenten sich nicht entblöden, als „andersdenkend“ identifizierte Professoren oder Politiker niederzubrüllen oder ihnen den Weg zu versperren. Und was tun die im Sommer so gelobten Akteure von „Fridays for Future“? Ihre Wortwahl war zwar wesentlich höflicher, doch auch sie zeichnen sich auch nicht durch eine übergroße Toleranz und Verständigungsbereitschaft aus. Viele erinnern an religiöse Eiferer, die vor einem nahenden Weltuntergang warnen und damit die Alternativlosigkeit ihrer Position rechtfertigen wollen.


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Erklärungen für die neue Aufgeregtheit in Deutschland gibt es schon. Da sind die globalen Bedrohungen: Weltenlenker – wie Donald Trump – die unberechenbar erscheinen, die Digitalisierung, von der niemand weiß, wie sie ihn trifft, die Globalisierung mit den unbekannten Risiken weltweit und die Klimakrise. Die Politiker erscheinen angesichts geballter Probleme ratlos und hilflos. Was soll man tun? Nötig wären vier Reformen:

Erstens: Entscheidungen müssen schneller fallen und klarer zuzuordnen sein. Ob es um neue Gesetze geht oder um Investitionsvorhaben – alles dauert zu lange. Das liegt zum einen an der Verflechtung von Bund und Ländern, zu viele Kompetenzen sind miteinander verzahnt, zu wenige Aufgaben in ihrer Verantwortlichkeit klar unterschieden. Eine Entflechtung, wie sie schon einmal versucht und in den vergangenen Jahren wieder zurückgedreht wurde, ist dringend nötig. Zum anderen verzögern viel zu lange Gerichtsverfahren neue Investitionen. In Deutschland wird das Klagerecht des einzelnen und einiger Verbände übertrieben, die Bürgerbeteiligung bei Planungen ebenso. Einwände müssen berücksichtigt und abgewogen werden – aber wesentlich schneller als bisher, bitte.


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Zweitens: Die Parlamente müssen gestärkt werden, die Parteien auch. In Großbritannien ist zu beobachten, wie die Übertragung einer komplexen Frage an das Volk das ganze politische System erschüttert hat. Das Thema wurde emotionalisiert, die knappe Entscheidung beim Plebiszit hinterlässt bis heute Ratlosigkeit. Weil sich viele dem Volksvotum absolut verpflichtet fühlen, sehen sie sich zum Kompromiss außerstande. Chaos ist die Folge. Daraus müssen wir lernen: Nur wenn klar ist, dass der Bundestag in Berlin und der Landtag in Hannover jeweils das „hohe Haus“ sind, in denen alle wichtigen Fragen entschieden werden, dann wird auch wieder klar, dass man sich in Parteien engagieren muss und über die Aufstellung von Parlamentskandidaten versuchen muss, seine politischen Ziele zu verwirklichen. Dieses Bewusstsein ist verloren gegangen – und der Ruf nach Volksentscheiden verstärkt das noch. Populistische Kräfte von links und rechts versuchen mehr oder weniger erfolgreich, die Parlamente zu verunglimpfen. Für die einen sind sie wirkungslos, da sowieso der globale Kapitalismus die Spielregeln bestimme, für die anderen hinderlich, da die Volksvertreter nicht das Volk vertreten würden. Beides ist Unsinn. Die Politiker können wichtige Weichen stellen – doch sie können es nur, wenn ihre Autorität wieder anerkannt wird und der Beruf des Politikers wieder als etwas Ehrenwertes und Erstrebenswertes erscheint. Dazu ist auch nötig, dass in der Politik ein strenger Verhaltenskodex wirkt. Politiker müssen im persönlichen Verhalten vorbildlich sein – und sie müssen großzügig und kompromissbereit sein. Und der mediale Volkssport, Politikern von vornherein alles Schlechte zu unterstellen, muss endlich aufhören.

Drittens: Der vorpolitische Raum muss wieder auf Dialog und Konsens eingestellt sein. Womöglich liegt es an der Dominanz der sozialen Medien und ihrer Verlockung, sich in den Filterblasen der eigenen Gesinnungsfreunde zu bewegen: Der eine bestätigt den anderen, man schaukelt sich gegenseitig hoch – und findet die Gegenseite umso abstoßender. Wie auch immer: Verständigungsbereitschaft muss wieder gelernt werden. Das schließt übrigens diejenigen ein, die im Verdacht stehen, wegen ihrer populistischen Haltung am wenigsten Interesse an Kompromissen zu haben – die in Teilen rechtsradikale AfD. Das über Jahrzehnte bewährte deutsche System von Interessensartikulation und -ausgleich kann seine Stärke nur beweisen, wenn es nicht diejenigen ausschließt, die im Verdacht des Versuchs einer Systemänderung stehen. So ist es peinlich, wenn sich Politiker demokratischer Parteien dafür hergeben, zu Blockaden des Bundesparteitags der – keinesfalls verbotenen – AfD aufzurufen. Abweichende Meinungen kann man nicht verbieten, man muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Manche wird man womöglich noch überzeugen können, aber man muss zeigen, dass man die Diskussion nicht scheut. Alles andere kündet von Schwäche.

Viertens: Wir brauchen starke Verbände. Eine funktionierende parlamentarische Demokratie benötigt auch starke, demokratisch kontrollierte Interessensverbände und Gewerkschaften als Gesprächspartner der Parlamente. Diese müssen zum Protest ebenso in der Lage sein wie zum Dialog und zur Kompromissfindung mit der Politik. Bedenklich ist, wenn sich Unzufriedene von Interessensverbänden abwenden, ihren eigenen Protest veranstalten und ihren Erfolg daran messen, wie laut und heftig sie demonstriert haben – und nicht mehr daran, wieviel sie am Ende in Verhandlungen mit der Politik erreichen konnten.

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