Auch manche rhetorische Spitzen können die rot-grüne Harmonie nicht trüben
Ein wirklich gut gelaunter Stephan Weil, der als Landesvorsitzender der SPD vor den „lieben Genossinnen und Genossen“ den Landesparteitag eröffnet, gerät im Verlauf des Tages schon mal ins Plaudern. Und so wird seine Rede vor den rund 200 Delegierten, die über den Koalitionsvertrag abstimmen sollen, von so mancher rhetorischen Spitze gespickt. Die Anwesenden nehmen es als launische Zwischenbemerkungen – aber an den Tischen am Rande der Tagung werden manche Sprüche dann später noch mal aufbereitet unter der Frage: Was hat Weil wohl damit gemeint? Am Ende dieses Wochenendes steht davon ungetrübt die lange erwartete Einigkeit: Bei nur einer Gegenstimme hat der SPD-Parteitag den Koalitionsvertrag gebilligt, ohne zuvor indes darüber lange zu diskutieren. Einen Tag später kam ein entsprechendes Votum von den Grünen: Vier Delegierte stimmen nach viereinhalbstündiger Debatte gegen die Vereinbarung, fünf enthalten sich der Stimme – die übergroße Mehrheit votiert dafür. Damit ist nun der Weg zur rot-grünen Regierungsbildung in dieser Woche geebnet.
Auf dem SPD-Parteitag spricht der Ministerpräsident, der vom morgigen Dienstag an in einer rot-grünen Konstellation regieren will, über eine „gleichberechtigte partnerschaftliche Koalition auf Augenhöhe“. Gleich im nächsten Halbsatz weist er aber auf den „Führungsanspruch“ hin, der sich auch in der stärkeren SPD-Seite im neuen Kabinett ausdrücke. Was nun also, Augenhöhe oder SPD-Übergewicht? Später dann versucht Weil, die engagierten Bildungspolitiker unter den SPD-Delegierten zu beruhigen, die den Verlust des Kultusministeriums an die Grünen bedauern. Da werde „schon nichts schiefgehen“ unter der künftigen Führung des Ressorts durch die neue Ministerin Julia Hamburg, meint der SPD-Landeschef. Klingt da noch der Behütungsanspruch der Sozialdemokraten durch? Ein anderes Beispiel in Weils Rede sind die Personen, die in der neuen Regierung eine Rolle spielen werden, etwa die bisherige und künftige Sozialministerin Daniela Behrens. Als Weil sie vor Monaten „den Shooting-Star der Landespolitik“ genannt hatte, soll Behrens darauf intern gar nicht erfreut reagiert haben. Jetzt meinte Weil in seiner Rede, an Behrens gewandt: „Du bist kein Shooting-Star der niedersächsischen Landespolitik mehr!“ Ein Grummeln geht durch den Saal: Bedeutet das vielleicht einen Liebesentzug Weils gegenüber der Ministerin? Die wörtliche Übersetzung von „Shooting-Star“ wäre „Sternschnuppe“, also ein vorübergehendes Aufglühen. So gesehen, ist die Bemerkung sogar sehr positiv gemeint. Wenn man als „Shooting-Star“ indes den Aufsteiger schlechthin ansieht, wäre der Eindruck ein entgegengesetzter.
Wie auch immer, diese beiden Sonderparteitage von SPD und Grünen vor der Regierungsbildung sind auch ein Gradmesser für die Stimmungen in beiden Parteien. Bei der SPD ist diese überaus positiv und aufgeräumt. Als die Namen der bisherigen und der neuen Minister von Weil aufgerufen werden, ertönt der Applaus in unterschiedlichen Lautstärken und Zeiteinheiten. Für Boris Pistorius, den Innenminister, ist es ordentlich, ebenso für Sozialministerin Behrens, den neuen SPD-Landtagsfraktionschef Grant Hendrik Tonne und die künftige Landtagspräsidentin Hanna Naber. Die neuen Minister Kathrin Wahlmann (Justiz), Wiebke Osigus (Regionales) und Falko Mohrs (Wissenschaft) werden ebenfalls freundlich und warmherzig empfangen. Bei einem aber, dem künftigen Wirtschaftsminister Olaf Lies, bricht bei der Nennung seines Namens richtiger Jubel aus – und das an mehreren Stellen während des Parteitags. Weil selbst trägt seinen Anteil zu dieser Situation bei, indem er gerade Lies‘ Rolle ausführlich beschreibt – als den, der für den Mittelstand da sein wird, der den raschen Bau des LNG-Terminals in Wilhelmshaven ermöglicht und „Niedersachsen als Tor zur Welt bei den Erneuerbaren Energien“ ausgestaltet. Das Wirtschaftsministerium werde nun „endlich wieder eine starke Führung bekommen“, fügt Weil hinzu.
Zu dieser Einordnung gehören noch ein paar andere Ansagen des Ministerpräsidenten – etwa die, dass die SPD die „Partei der Arbeit“ sein müsse, dass die SPD für Minderheiten nur kämpfen könne, „wenn man die Rückendeckung der Mehrheit hat“ und dass die SPD auch für Entbürokratisierung stehen müsse, etwa in der Pflege. Was Weil den Delegierten allerdings unausgesprochen vermittelt, ist vor allem eines: Die Frage seiner Nachfolge ist im Augenblick jedenfalls geordnet. So stark, wie auch von Weil selbst der Name Olaf Lies hervorgehoben wurde, lautet die Rangfolge so: Die Nummer eins ist Weil, die Nummer zwei ist Olaf Lies, danach kommen die anderen. Weder in der Person des neuen Fraktionschefs Grant Hendrik Tonne noch in den Personen der neuen Minister drohen Konkurrenten für Lies in dessen Rolle als „Kronprinz“, und für Pistorius und Behrens gilt das offenbar ebenso. Damit ist nun nicht gesagt, dass alles auf Lies als nächsten SPD-Spitzenmann in der Zeit nach Weil hinausläuft. Lediglich jetzt, im Herbst 2022, sind die Machtgewichte in der niedersächsischen SPD austariert.
Auch bei den Grünen einen Tag später, am Sonntag, ist die Stimmung prima. Ausgiebig wird von den ebenfalls rund 200 Delegierten der Wahlerfolg von vor einem Monat beklatscht und gefeiert. Sehr viel Zeit nimmt sich die Partei, die einzelnen Kapitel des Koalitionsvertrages vorzustellen, teilweise durch die künftigen Minister. Immer wieder werden dabei Erfolge in den Verhandlungen mit der SPD erwähnt – und auch zusätzliche Erwartungen geäußert. Gerald Heere, der nächste Finanzminister, spricht vom CO2-Preis, der in die betriebswirtschaftlichen Berechnungen des Landes einbezogen werden solle. Filiz Polat, die Bundestagsabgeordnete aus Osnabrück, hofft auf Folgewirkungen der Tatsache, dass Kultusministerin Julia Hamburg künftig im VW-Aufsichtsrat wirken kann. Es gehe auch um China und mehr Vorsicht bei der Tatsache der außenwirtschaftlichen Beziehungen zu Diktaturen wie der in Peking. „Ich denke, die Landesregierung kann Einfluss nehmen auf die Absatzmärkte und auf die Tatsache, dass die Einhaltung von Menschenrechten eine größere Rolle spielen soll“, sagt Polat, ohne den VW-Aufsichtsrat in diesem Satz namentlich zu erwähnen.
Pia Scholten von der Grünen Jugend warnt davor, dass man „die eine Krise gegen die andere ausspielt“. Sie fordert, dass immer genug Geld für die Unterstützung der sozial Schwachen da sein müsse. Jürgen Janssen aus der Wesermarsch lobt, dass die neue Landesregierung gegenüber der Vertiefung der Außenweser und der Unterweser äußerst skeptisch ist. Der auf Bundesebene verfolgte Plan, die Unterweser-Vertiefung über ein Sonder-Bundesgesetz beschleunigt durchzusetzen, müsse gekippt werden. Janssen bedauert zudem, dass es gegenüber der SPD nicht gelungen sei, den Klimaschutz als „kommunale Pflichtaufgabe“ festzuschreiben.
Wäre das geschehen, hätten die Kommunen im großen Umfang für Klimainvestitionen Entschädigungen des Landes fordern können. Die Grünen-Kreisverbände Stade, Rotenburg/Wümme und Cuxhaven waren nach den Worten von Benjamin Schröder irritiert, weil sie aus den rot-grünen Verhandlungen gehört hatten, das Nein der Grünen zum Ausbau der Küstenautobahn A20 werde nicht weiter ins Gewicht fallen. Sie hatten erst vor, den Koalitionsvertrag an dieser Stelle noch einmal ändern zu lassen – verständigten sich dann aber mit dem Landesvorstand darauf, nur eine Meinungsäußerung zu dem Papier zu formulieren. Später tritt noch die Delegierte Annette Niemann aus Uelzen nach vorn und zeigt sich „schwer enttäuscht“, dass im Vertrag mit der SPD kein klares Nein für den Autobahn- und Straßenneubau durchgesetzt worden ist. Sie könne daher dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen, sagt sie.
So intensiv wie bei den Grünen wird bei der SPD, ein Tag zuvor, nicht über den Koalitionsvertrag diskutiert. Bei den Sozialdemokraten gibt es nur vier Wortmeldungen, und zuerst geht die Juso-Landesvorsitzende Ronja Laemmerhirt nach vorn und nennt die Quote der Frauen in der neuen SPD-Landtagsfraktion „miserabel“. Besian Krasniq von den Jusos rügt als zweiter Redner, die SPD müsse in den Großstädten wieder an Boden gewinnen und auch stärker an die jungen Leute denken. „Auf die Wähler über 60 zu setzen, ist keine langfristige Strategie.“ Das bleibt an diesem Wochenende unwidersprochen.
Dieser Artikel erschien am 07.11.2022 in der Ausgabe #196.
Karrieren, Krisen & Kontroversen
Meilensteine der niedersächsischen Landespolitik
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