Franz Rainer Enste, Landesbeauftragter gegen Antisemitismus, stellt zusammen mit Barbara Havliza seinen Tätigkeitsbericht 2021 vor. | Foto: Wallbaum

Der Landesbeauftragte für den Schutz des jüdischen Lebens, Franz Rainer Enste, wirbt massiv für mehr Engagement des Landes und des Bundes zur Erwiderung auf die Gefahren des Antisemitismus. „Es ist beispielsweise erschreckend, wie viele Schulklassen beim Besuch der Gedenkstätte in Bergen-Belsen mit antisemitischen Sprüchen auftreten“, sagte er am Montag bei der Vorstellung seines aktuellen Tätigkeitsberichtes. In der Veranstaltung beklagte Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden, das Fehlen von ausreichend geschultem pädagogischen Personal für die Gedenkstätte in dem früheren NS-Konzentrationslager Bergen-Belsen. „Viele Schulklassen wollen dort hinfahren – aber sie können es nicht, weil die Lehrer für den Unterricht dort vor Ort fehlen“, sagte Fürst.

Anfangs habe es an den nötigen Bus-Angeboten gemangelt, das sei jetzt behoben. Aber nun tauche das Problem des fehlenden pädagogischen Fachpersonals auf. Justizministerin Barbara Havliza (CDU), in deren Ressort der unabhängige Landesbeauftragte Enste angesiedelt ist, forderte eine konsequente Einbeziehung des Besuchs von NS-Gedenkstätten in den Schulunterricht. „So etwas sollte selbstverständlich sein“, betonte Havliza. Die Vorsitzende des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden, Rebecca Seidler, hält darüber hinaus auch den Besuch jüdischer Einrichtungen wie Synagogen für bedeutsam: „Viele Menschen fragen mich: Gibt es in Deutschland überhaupt noch Juden?“ Es komme darauf an, jungen Menschen die Vielfalt des jüdischen Lebens zu zeigen.

253 Ermittlungsverfahren wegen antisemitischer Straftaten

Enste verwies in seinem Tätigkeitsbericht auf eine wachsende Zahl antisemitischer Straftaten. 2021 hat es in Niedersachsen 253 Ermittlungsverfahren gegeben, davon 147 wegen Volksverhetzung und 93 wegen der Verwendung verbotener Symbole. 2020 waren es lediglich 180 Ermittlungsverfahren. Wie Havliza betonte, steigen die Zahlen seit 2018 stetig an. Enste lobte die jüngsten Strafrechtsverschärfungen, nach denen eine schnelle Verfahrenseinstellung bei Antisemitismus-Verdacht nicht mehr möglich ist. Außerdem sei die Lücke zwischen Beleidigung und Volksverhetzung im Strafgesetzbuch geschlossen worden. „Diese Ende 2021 eingeführten Schritte müssen sich bewähren. Ich werde dazu mit den Staatsanwaltschaften über deren Erfahrungen reden“, kündigte Enste an.

„Ich sehe Tendenzen einer Zerbröselung der Demokratie.“

Der Landesbeauftragte sprach außerdem von einem „Tarnkappen-Antisemitismus“, der sich vordergründig gar nicht gegen Juden oder den Staat Israel richte, der aber auf tiefliegende Vorurteile abhebe – wenn beispielsweise über „die Rothschilds“, über „Globalisten“ oder auch nur über „die da oben“ gelästert werde. Damit im Zusammenhang stehe die allgemeine Lustlosigkeit, die demokratischen Spielregeln zu befolgen, was sich etwa in der verheerend niedrigen Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in NRW mit nur 55 Prozent ausdrücke. „Ich sehe Tendenzen einer Zerbröselung der Demokratie“, sagte Enste. „Wenn die Flut höher wird, müssen wir auch die Deiche höher bauen“, fügte er hinzu und forderte mehr Investitionen für die Bildungspolitik und für die Pflege der Erinnerungskultur.

Sicherheitsmaßnahmen nun möglich

Die rund 5 Millionen Euro des Landes, die Ende 2021 im Landesetat 2022/2023 bereitgestellt wurden und zum Schutz jüdischer Einrichtungen ausgegeben werden sollen, können nun bald in Baumaßnahmen umgesetzt werden. Wie Seidler erklärte, sei die Freigabe „nach vielen Hürden und Klärungen jetzt endlich geschehen.“ Enste ergänzte, es sei „schon bedenkenswert, dass dies nun erst möglich ist zweieinhalb Jahre nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle“, er hätte sich „ein schnelleres Vorgehen gewünscht“.

Fürst meinte, die Investition sei „eine recht mühselige Angelegenheit“ geworden im Kontakt zwischen Landeskriminalamt, Kultusministerium und jüdischen Einrichtungen. Inzwischen müsse man „mit einem Preisaufschlag von 30 Prozent rechnen“. Viele Vorschläge halte er allerdings auch für wenig tauglich, er wolle keinen Stacheldraht zur Begrenzung von Synagogen. „Wir wollen nicht wie Gefangene leben.“