Antisemitismus-Beauftragter fordert: Wir müssen stärker an die NS-Geschichte erinnern
Gestern hat die Landesregierung den früheren Regierungssprecher Franz-Rainer Enste (66) zum neuen „Beauftragten gegen Antisemitismus und für den Schutz des jüdischen Lebens“ berufen. Als ehrenamtlicher Mitarbeiter, der von einem kleinen Stab im Justizministerium unterstützt wird, soll Enste den Kontakt zu den jüdischen Organisationen halten, über die Erscheinungsformen des Antisemitismus aufklären und Empfehlungen zum Umgang mit Judenhass geben.
Jedes Ministerium benennt eine Kontaktperson, die im engen Austausch mit ihm stehen soll. In einer ersten Stellungnahme erklärte Enste, dass er großen Wert lege auf die Pflege der Erinnerungskultur in Deutschland – gerade auch mit Bezug auf das Geschehen im Nationalsozialismus. Es gehe um die Vermittlung der Wirkungsweisen der Diktatur. „Früher habe ich unter den Landtagspräsidenten Horst Milde, Rolf Wernstedt und Jürgen Gansäuer gearbeitet.
Für alle war wichtig, dass wir an die Zeit zwischen 1933 und 1945 zurückdenken und uns vergegenwärtigen, in welcher Art damals die Menschenrechte verletzt wurden und Terror sich entwickeln konnte. Diese Anknüpfung an die Vergangenheit geschieht nicht, um den Geist zu beschweren, sondern um den Verstand zu erhellen“, betonte Enste. Wer einmal Gedenkstätte besucht habe, in Auschwitz, in Buchenwald oder in Bergen-Belsen, der müsse sich aufgerufen sehen „alles zu tun, eine Wiederholung solcher Grauen zu verhindern“.
Menschenrechte und Religionsfreiheit als große deutsche Errungenschaften
Enste sieht als große deutsche Errungenschaften den hohen Wert der Menschenrechte, der Grundrechte und vor allem auch der Religionsfreiheit. Wenn man diese Werte schleichend aufgebe, sei das fahrlässig. Seine Aufgabe sehe er auch darin, den großen Wert der vielfältigen jüdischen Kultur für die deutsche Gesellschaft zu bekräftigen – und dies auch den Menschen zu zeigen, die davon bisher wenig wissen. „Jüdische Kultur ist eine Bereicherung, keine Bedrohung“, betont der neue Beauftragte.
Es geht doch vielmehr darum, die Bedeutung der jüdischen Kultur zu unterstreichen.
Aus seiner Sicht ist der vom Bundes-Antisemitismus-Beauftragten erteilte Rat, Juden sollten in bestimmten Gegenden nicht mehr mit der Kippa erscheinen und damit Judenhass nicht provozieren, ein falscher Ansatz: „Es geht doch vielmehr darum, die Bedeutung der jüdischen Kultur zu unterstreichen.“ Enste soll einmal jährlich gegenüber dem Landtag einen Bericht über die Situation der Juden in Niedersachsen vorlegen, er bekommt einen Referenten und einen Sachbearbeiter. In der engen Zusammenarbeit mit den Generalstaatsanwaltschaften soll er das Recht erhalten, auch in anonymisierte Akten Einblick zu nehmen. Schließlich wird Enste auch eingebunden in die Diskussion jüdischer Gemeinden mit der Landesregierung, ob und wie es einen stärkeren Schutz jüdischer Einrichtungen geben kann und soll.
Ministerpräsident Stephan Weil sagte, gegenwärtig würden 196 jüdische Treffpunkte geschützt – entweder, indem dort regelmäßig Polizeistreifen passieren, oder aber mit ständigen Sicherungsposten. Laut Justizministerin Barbara Havliza steigt die Zahl der antisemitischen und fremdenfeindlichen Straftaten in Niedersachsen wieder. 2017 gab es 1052 Fälle, 2018 dann 575 Fälle – und im ersten Quartal 2019 schon 410 Fälle. Die Hälfte davon bezieht sich auf das Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole, etwa Hakenkreuze. Seit drei Monaten haben die Generalstaatsanwaltschaften die Anweisung, Beleidigungen im Netz, sogenanntes „Hate Speech“, konsequent zu verfolgen und nur noch in Ausnahmefällen die Verfahren einzustellen.
Weil: Verfassungsschutz könnte den „Flügel“ der AfD überprüfen
Im Zusammenhang mit der Ernennung des Antisemitismus-Beauftragten äußerten sich Weil und Havliza auch zur Bedeutung der rechtspopulistischen AfD für die Verschärfung der öffentlichen Debatte. Weil sagte, er sei „weit davon entfernt“, der AfD eine Mitverantwortung für die antisemitische Mordtat vergangene Woche in Halle zuzuschreiben.
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„Aber unbestreitbar werden in den Diskussionsforen der AfD die Hemmschwellen gegenüber Verunglimpfung und Gewalt niedriger.“ So sei es aus seiner Sicht „sehr naheliegend, auch den ‚Flügel‘ der AfD auf seine mögliche Verfassungsfeindlichkeit zu überprüfen“. Hierüber führe das Bundesamt für Verfassungsschutz Gespräche mit den Innenministerien der Länder. Havliza meinte, innerhalb der AfD gebe es Leute, die bewusst extremes Gedankengut in Grauzonen verschleierten. „Dann gilt der weise Spruch von Herta Müller: Erst gehen die Gedanken spazieren, dann die Worte und dann die Messer.“