Acht Prozent mehr? Dafür sehen die Arbeitgeber nun gar keinen Spielraum
Es ist eine Tarifverhandlung voller Superlative: Angesichts einer Rekordinflation fordert die IG Metall für die Metall- und Elektroindustrie ein Lohnplus von acht Prozent. Die Arbeitgeber sehen derzeit aber keinen Spielraum, um die verlangte höchste Tariferhöhung seit 1973 durchzusetzen. Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklungen warnen sie davor, dass ein deutlicher Anstieg auch noch bei den Personalkosten vielen Unternehmen die Luft zum Atmen nehmen wird. Eine Insolvenzwelle sowie Produktionsverlagerungen ins Ausland könnten die Folge sein. Die jüngsten Konjunkturprognosen bekräftigen diese Befürchtungen. „Wir gehen in eine Winter-Rezession“, kündigte am Montag Prof. Timo Wollmershäuser vom Ifo-Institut an. Auch Prof. Stefan Kooths vom IfW Kiel bestätigte: „Deutschland stehen magere Jahre bevor.“
Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) rechnet damit, dass die aktuelle Erdgaskrise für die deutsche Volkswirtschaft noch teurer wird als die beiden Ölkrisen in den 1970er Jahren. „Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes verlieren damit an internationaler Wettbewerbsfähigkeit“, sagte IWH-Vizepräsident Prof. Oliver Holtemöller. Genauso wie das Ifo-Institut prognostiziert er einen außergewöhnlich hohen Anstieg der Lohnstückkosten. Zudem erwarten die IWH-Experten eine verringerte Investitionsbereitschaft der Unternehmen und einen Rückgang von Exporten, insbesondere in die ebenfalls vom wirtschaftlichen Abschwung betroffenen europäischen Partnerländer.
Mit den Worten „acht Prozent – das ist machbar“ untermauerte am Montag IG-Metall-Bezirkschef Thorsten Gröger zum bundesweiten Start der Tarifrunde in Hannover die Forderung der Gewerkschaft. Für Gröger führt kein Weg an einer Erhöhung der Entgelttabellen vorbei, nachdem sich die Metaller in den vergangenen beiden Corona-Krisenjahren mit Einmalzahlungen zufriedengegeben hätten. Die Stimmung unter den Mitgliedern bezeichnete der Gewerkschaftsfunktionär als „ausgesprochen aufgeheizt“. Die Beschäftigten arbeiten sich vor allem an Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf ab, der eine Nullrunde ins Spiel gebracht hatte und bei der Gasversorgung im Notfall einen Vorrang für die Industrie vor privaten Haushalten forderte. „Mir wäre es lieber, ich sitze ein paar Monate bei 18 Grad zu Hause und ziehe zwei Pullover an, behalte aber meinen Arbeitsplatz, weil die Industrie vorrangig mit Gas bedacht wird“, sagte Wolf bereits im April in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Dieser Vorschlag erregt immer noch die Gemüter. „So einen Schwachsinn soll er selber machen“, empörte sich gestern ein Metallarbeiter aus Laatzen über die Pullover-Idee. Die Stimmung unter den Gewerkschaftern brachte er wie folgt auf den Punkt: „Es muss was in die Lohntüten, sonst gibt es eine Sozialkatastrophe im nächsten Jahr.“
„Für die Forderung der IG Metall, vor dem Hintergrund der enormen Preissteigerungen bei den Energiekosten, habe ich in gewisser Weise sogar Verständnis. Aber bei uns sind sie damit an der falschen Adresse“, sagte dagegen Volker Schmidt. Der Hauptgeschäftsführer von Niedersachsen-Metall sieht angesichts der wirtschaftlichen Notlage eher den Staat in der Pflicht, die Kaufkraft seiner Bürger zu erhalten. Schmidt rechnete vor, dass der Energiepreisanstieg bei den Metall- und Elektrobetrieben bereits zu Mehrkosten geführt hat, die nahezu einem Viertel sämtlicher Personalkosten entsprechen. „Da nochmal acht Prozent draufzusetzen, würde vielen Unternehmen den Todesstoß versetzen“, mahnte Schmidt.
Das Argument der Gewerkschaft, dass die Betriebe immer noch volle Auftragsbücher haben, ließ er nicht gelten. „Aufträge sind keine Umsätze“, stellte er klar und erinnerte an die Finanzkrise 2008. „Einen Tag vor der Pleite der ‚Lehman Brothers‘ hatten wir auch volle Auftragsbücher. Drei Wochen später war alles futsch“, sagte Schmidt. Schon jetzt könnten zudem viele Aufträge nicht abgearbeitet werden – weil unter anderem Material und Personal fehlten. „Durch die hohen Energie- und Vorleistungskosten geschieht es zudem immer häufiger, dass Unternehmen mit Aufträgen, die sie vor der Krise angenommen haben, nun Verluste machen“, ergänzte Torsten Muscharski, der die Arbeitergeberseite bis zum Tarifabschluss am Verhandlungstisch vertreten wird.
Die Gefahr einer „Sozialkatastrophe“ sieht der Hauptgeschäftsführer von Niedersachsen-Metall angesichts des Lohnniveaus in der Metall- und Elektroindustrie nun gar nicht. „Bei Metall und Elektro handelt es sich um eine Hochlohnbranche. Das tarifliche Durchschnittsgehalt liegt bei über 60.000 Euro pro Jahr.“ Das Durchschnittseinkommen in Deutschland lag im Jahr 2021 bei 49.200 Euro brutto. Ein zentraler Streitpunkt in der aktuellen Tarifrunde ist auch die Frage, inwiefern Unternehmen die aktuellen Preissteigerungen weiterreichen können. Die IG Metall argumentiert, dass die Mehrzahl der Firmen die Kostensteigerungen auf ihre Kunden abwälzen kann. Zum Beweis führen die Gewerkschafter in der Regel die börsennotierten Unternehmen an, die trotz aller Krisen auch für das Geschäftsjahr 2021 erhebliche Gewinne ausgewiesen haben. Die Arbeitgeberseite verweist dagegen auf die vielen mittelständischen Unternehmen, die vertraglich gebunden sind und ihre Kosten nicht weitergeben können. Das gelte für drei Viertel der Fahrzeug- und Maschinenbaubranche sowie auch für die meisten Unternehmen in der Elektro- und Medizintechnik. „Dort gehen die exorbitant gestiegenen Kosten für Energie und Vorleistungen zulasten der Liquidität und der Investitionen in die Zukunft“, sagte Schmidt. Schon jetzt seien die politischen Vorgaben zur Dekarbonisierung von den Unternehmen kaum umzusetzen. „Wir haben hundsmiserable Standortbedingungen in Deutschland – und sie werden von Tag zu Tag schlechter“, warnte der Niedersachsen-Metall-Hauptgeschäftsführer.
Wo sich beide Seiten im Tarifstreit treffen könnten, ist noch unklar. In der ersten Verhandlungsrunde, sechs Wochen vor Ablauf der Friedensfrist, legten die Arbeitgeber erwartungsgemäß kein Angebot vor. Schmidt machte dem Sozialpartner wenig Hoffnung, dass sich die Arbeitgeberseite auf die 8-Prozent-Forderung einlassen wird. Diese übersteige die „Grenze des Zumutbaren“, stattdessen wolle man einen Kompromiss finden, der Wertschöpfung und Beschäftigung in den Betrieben stabilisiert. „Das ist uns bisher immer gelungen und ich bin optimistisch, dass es uns mit Vernunft und Pragmatismus auch in dieser extrem schwierigen Lage gelingen wird“, fügte Muscharski hinzu. IG-Metall-Verhandlungsführer Gröger sagte nach dem ergebnislosen Verhandlungsauftakt: „Wir erwarten bei der zweiten Verhandlung, welche im Oktober stattfinden wird, ein zielführendes Auftreten der Arbeitgeber, das der aktuellen Situation und insbesondere den Beschäftigten Rechnung trägt. Es braucht ein vernünftiges Angebot.“
In der Eisen- und Stahlindustrie hatten sich IG Metall und Arbeitgeber im Juni auf ein Lohnplus von 6,5 Prozent geeinigt. Es ist die höchste prozentuale Erhöhung in der Branche seit 30 Jahren. Für die Hafenarbeiter hatte Verdi im August sogar einen Entgeltanstieg um 9,4 Prozent mit einer Laufzeit für 24 Monate herausgeschlagen – mit einem Sonderkündigungsrecht für den Fall, dass die Inflation auch 2023 auf Rekordniveau bleibt. Beide Abschlüsse dürften für die 120.000 tarifgebundenen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Niedersachsen aber nur begrenzte Aussagekraft haben. Nachdem die Ampelkoalition im Entlastungspaket III einen steuerfreien „Inflationsbonus“ von bis zu 3000 Euro vorgesehen hat, könnte dieser im Tarifabschluss eine Rolle spielen. Ein mögliches Szenario könnte eine Mischlösung sein, bestehend aus einer moderaten Tariferhöhung und monatliche Einmalzahlungen im Rahmen eines Notabschlusses über das schwierige Winterhalbjahr. Außerdem könnten in dieser Zeit andere Entlastungen wie etwa der von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Energiepreisdeckel greifen.
Dieser Artikel erschien am 13.09.2022 in der Ausgabe #159.
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