Für einige ist der Osten der neue Westen
Liebe Niedersachsen,
„Als wir klein war’n war das Allermeiste sonnenklar“, so sang es Heinz Rudolf Kunze in der ersten Textzeile von „Wunderkinder“ 1986 .
Und ein paar Zeilen weiter heißt es: „Die Russen waren böse, die Amis waren gut.“ So einfach ist das heute alles nicht mehr, und in Zeiten von Donald Trump hilft bei manchen wankelmütigen Deutschen der beste Alleskleber nicht mehr, um die Westbindung aufrecht zu erhalten. Stattdessen geht bei verdächtig vielen der Blick nach Russland und zu Wladimir Putin. Auch die SPD ist seit Gerhard Schröder ein unsicherer Kantonist geworden, wenn es um eine klare Position zwischen West und Ost geht.
Im Gifhorner Glockenpalast ging es bei einem Termin am Wochenende um die deutsch-russischen Beziehungen, bei dem auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil ans Mikrofon trat. Die Vorstellungen über die pluralistische Demokratie in Deutschland und Russland seien „nicht deckungsgleich“, sagte Weil in Gifhorn. Stimmt, da gibt es kleine, aber feine Unterschiede. Zum Beispiel fahren wir in Deutschland seit ein paar Jahrzehnten schon nicht mehr mit Panzern in Nachbarländern herum – eine sehr gute Entwicklung. Ich muss für diese TagesKolumne voraussichtlich nicht in den Knast, weil Widerspruch erlaubt ist, und in Deutschland versuchen wir auch nicht, heimlich auf digitalem Weg Wahlen in anderen Staaten zu beeinflussen.
Trotz dieser nicht ganz deckungsgleichen Vorstellungen entdecken viele ihre neue Liebe zu Russland. „Irgendwann wird auch der letzte Trampel verstehen, dass nicht Russland unser „Feind“ ist, der wirkliche „Feind“ sitzt woanders“, schreibt ein Kommentator auf der Facebook-Seite des Ministerpräsidenten, um diesen „Feind“ später genauer zu definieren: „United States zum Beispiel mit Ihren Rohstoffkriegen und Scheinloyalitäten.“ Ein anderer schreibt: „Haltet euch den Russischen Bären zum Freund. Das ist die beste Lösung für ein friedliches Europa. Die USA braucht keiner.“ Reaktionen seitens der Staatskanzlei gab es auf diese Kommentare übrigens nicht.
Kein Wunder also, dass sich in dieser Gemengelage der Honorarkonsul und Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Heino Wiese leicht tut, den Zeigefinger Richtung Westen zu heben: „Starke Aggressionen“ gingen von Donald Trump in den USA aus, so Wiese. „Ehe du zu handeln beginnst, sei dein Geist frei von Zweifel“, würde vielleicht sogar Fjodor Dostojewski der Gruppe der Gifhorner Russlandfreunde zurufen, wenn er es denn noch könnte. Nun sind die Russen nicht mehr böse und die Amis nicht grundsätzlich gut – das war auch in der Zeit der Wunderkinder nicht anders. Aber wer Orientierung sucht, sollte nicht mit Tunnelblick durch die Geschichte ziehen und alte Freunde vorschnell zu neuen Gegnern erklären. Über das Treffen in Gifhorn berichtet mein Kollege Klaus Wallbaum heute ab Seite 5. Unnötig zu erwähnen, dass dies meine Leseempfehlung des heutigen Tages ist. (Leider nur für Abonennten – Abo hier)
Ich wünsche Ihnen einen orientierungsfreudigen Start in die neue Woche
Martin Brüning
PS: Unser Politiker der Woche kommt übrigens nicht aus Russland, sondern aus dem Landkreis Nienburg. Wer könnte es sein? Hier klicken.