Wie gut hat der Verfassungsschutz jugendliche Extremisten im Blick?
Safia S. war 15 Jahre alt, als sie auf dem hannoverschen Hauptbahnhof einem Polizisten ein Messer in den Hals gerammt hat. Die Hinweise, dass sie schon im frühen Kindesalter vom IS radikalisiert worden war, verdichten sich offenbar. Der IS schreckt nicht davor zurück, Kinder in seinen angeblichen „heiligen Krieg“ zu schicken – so auch kürzlich wieder beim Bombenanschlag auf Kurden in der Türkei, der vermutlich auf das IS-Konto geht. Auch in anderen extremistischen Organisationen sind Minderjährige aktiv, auch in Deutschland, beispielsweise in rechtsradikalen Kameradschaften. Hat man diese Kinder ausreichend im Blick? Es ist Aufgabe des Verfassungsschutzes, solche Bestrebungen zu beobachten – um als Frühwarnsystem der Politik und der Polizei wichtige Hinweise geben zu können. Aber mit der neuen gesetzlichen Grundlage, die am morgigen Donnerstag im Innenausschuss des Landtags beraten wird, winkt wohl keine Erleichterung für die Arbeit des Geheimdienstes.
Das Verfassungsschutzgesetz bestimmt, wie mit Minderjährigen ab 14 Jahren umzugehen ist. Nach bisherigem, noch nicht geänderten Gesetz dürfen Daten gespeichert werden bei Spionageverdacht und „bei Verfolgung von staatsgefährdenden Bestrebungen“. Dabei wird als Voraussetzung eine Gewaltanwendung erwähnt „oder Vorbereitungshandlungen“. Das heißt: Ein Jugendlicher ab 14 musste nicht unbedingt selbst gewalttätig aufgefallen sein, um in die Datei des Verfassungsschutzes zu gelangen. Verlangt wurden aber Hinweise auf seine bevorstehende Gewaltbereitschaft. Der neue Vorschlag von Rot-Grün, den die Koalition vermutlich im September im Landtag beschließen will, verändert diese Vorgaben. Notwendig vor einer Speicherung der Namen von Jugendlichen sind jetzt „tatsächliche Anhaltspunkte“ für die Planung einer schweren Straftat (etwa eines Terroranschlages). Alternativ dürfen Daten über 14- und 15-Jährige nach dem Gesetzesplan erhoben werden, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies „zur Abwehr einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben“ erforderlich ist.
Dieses „nicht ausgeschlossen“ kann sich, so meinen Kritiker, unter Umständen als zu hohe Hürde erweisen. Was wäre mit einem Jugendlichen, der angepasst auftritt und lediglich Mitläufer in einer radikalen Gruppe ist, selbst aber keine Gewaltbereitschaft zeigt? Damit auch so jemand erfasst werden kann, hat die CDU-Landtagsfraktion einen eigenen Gesetzesvorschlag vorgelegt, der hier eine Speicherung ausdrücklich vorsieht. Laut CDU-Modell dürften Daten von 14- und 15-Jährigen registriert werden, wenn diese Kinder in einer Gruppe aktiv sind, die „auf die Anwendung oder Vorbereitung von Gewalt gerichtet ist“ – sofern die betreffenden Jugendlichen diese Ausrichtung auch billigen. Legt man diesen Vorschlag zugrunde, hätte Safia S. eindeutig schon vor ihrer Messerattacke auf den Polizisten beobachtet werden können, da sie sich im Umfeld von salafistischen Gruppen bewegte. Ob die von Rot-Grün geplante Formulierung eine solche Möglichkeit auch eröffnen kann, bleibt umstritten. Sozialdemokraten und Grüne meinen, das neue Gesetz sei für solche Zwecke ausreichend. CDU und FDP bestreiten dies.
Auffällig ist nun, dass außerhalb Niedersachsens die Versuche einer gesetzlichen Verschärfung viel weiter gehen. Die rot-grüne Regierung in Nordrhein-Westfalen plant, für eine Speicherung sollten „tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht einer Bestrebung“ ausreichen, die „durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen“ auffällt. Immerhin wird hier eine Vorbereitung auf eine gewalttätige Handlung als Voraussetzung genannt – eine Hürde, die im niedersächsischen CDU-Vorschlag nicht mehr enthalten ist.
Rot-Grün steckt mit seiner Gesetzesnovelle in einer Zwickmühle. Im Koalitionsvertrag von 2013 wollte die Koalition dem Verfassungsschutz ein Korsett von strengen Vorschriften umlegen. „Die Kriterien für die Arbeit des Verfassungsschutzes werden eng gefasst und streng überwacht“, hieß es darin. Nach den islamistischen Gewalttaten in Europa, im Angesicht einer wachsenden Angst vor Terrorismus und nach den Fehlern der Sicherheitsbehörden im Fall Safia S. stellt sich nun aber verstärkt die Aufgabe, den Verfassungsschutz effektiver zu machen. Damit wird das Gegenteil dessen notwendig, was SPD und Grüne 2013 vereinbart hatten.
Wie schwierig dieser Grundkonflikt in der praktischen Arbeit werden kann, zeigt eine Vorschrift, die mit der Gesetzesnovelle gültig werden soll. Die G-10-Kommission, ein Gremium von Parlamentariern zur Kontrolle von Grundrechtseingriffen etwa bei Telefonüberwachungen, soll künftig immer dann eingeschaltet werden, wenn der Verfassungsschutz eine neue Gruppierung überwachen will. Da in der G-10-Kommission auch Vertreter der Grünen sitzen, viele Grüne aber grundsätzlich die Arbeit des Verfassungsschutzes skeptisch beäugen, sind auch künftig interessante Debatten rund um den Verfassungsschutz garantiert. (kw)