10. Juni 2025 · 
TagesKolumneVerkehr

TagesKolumne: Wenn der ÖPNV ins Auge geht

Man kann sich ja über vieles in Innenstädten aufregen: über Radfahrer, die an roten Ampeln einfach über den Bürgersteig brettern, über E-Scooter auf Abwegen oder über SUV-Fahrer, die glauben, ihr Recht auf freien Parkraum sei im Grundgesetz verankert. In Göttingen aber geht man neue Wege und empört sich über Busse, die mit Tempo 20 durch die Fußgängerzone fahren. Ein Optiker mit besonders hoher Sehschärfe für unzumutbare Verkehrsbelastung hatte gegen diese Praxis geklagt, weil der ÖPNV zwar die Gesellschaft zusammenhält, bei ihm aber angeblich für Risse im Mauerwerk seines 2005 erworbenen Wohn- und Geschäftshauses sorgt.

Das Verwaltungsgericht Göttingen sah das allerdings anders: Die Tempo-20-Ausnahme für den Busverkehr sei zulässig, die Rechte der Kläger nicht verletzt. Der Linienverkehr sei bereits seit 1978 Bestandteil des Verkehrskonzepts, ein Großteil der Fahrzeuge sei elektrisch, die Lärmmessungen unauffällig. Und dass das Geschäftsmodell eines Innenstadt-Optikers womöglich auf tiefenentspannte Laufkundschaft setzt und von Busverkehr beeinträchtigt werden könnte, sei kein Fall fürs Straßenverkehrsrecht, sondern für ein gutes Marketingkonzept.

Ich frage mich zudem: Wenn ein Bus, der mit 20 Sachen rollt, schon eine Gefährdung für eine gemauerte Hausfassade darstellt, was passiert dann erst bei 23 km/h aufwärts? Kippt dann der Sehtestkasten von der Wand? Explodieren die Hornbrillen in den Auslagen? Oder werden Passanten mit mehr als minus 3 Dioptrien plötzlich rückwärts in den Laden gesogen?

Ein ganz normaler Tag in der Fußgängerzone von Göttingen: Busse rauschen mit wahnsinniger Geschwindigkeit an schockierten Optikern vorbei. | Foto: Link/mit KI generiert

Das Verwaltungsgericht jedenfalls berief sich auf die gültigen Naturgesetze und das bestehende Recht. Die Richter stellten nüchtern fest, dass sich der Kläger nicht auf subjektive Rechte berufen könne – also keine individuellen Ansprüche hat, die durch den Busverkehr verletzt würden. Die Fußgängerzone diene dem Allgemeinwohl – und das schließe den öffentlichen Nahverkehr ausdrücklich mit ein. Wer mitten in der Stadt leben oder arbeiten wolle, müsse sich mit dieser Realität arrangieren. Notfalls hilft vielleicht auch eine rosarote Brille, um die Situation in der Göttinger Fußgängerzone nicht ganz so dramatisch zu sehen. Ich wüsste da jemanden, der die anfertigen könnte.

Wenn Sie selbst mit mehr als 20 km/h unterwegs sind, bitte ich Sie das Lesen spätestens an dieser Stelle einzustellen. Für alle anderen kommen hier die Themen der heutigen Ausgabe:

Strompreiszonen mit Gegenverkehr: Umweltminister Christian Meyer fordert freie Fahrt für faire Netzentgelte – und will Deutschland in Strompreisregionen aufteilen. Nicht nur Bayern reagiert auf solche Vorstöße mit wütendem Gehupe.

Trump-Zölle auf der Überholspur: Der Zollstreit mit den USA war lange ein Stop-and-Go. Jetzt tritt Donald Trump voll aufs Gas. Bernd Lange warnt: Ohne zügiges Gegenlenken fliegt die niedersächsische Wirtschaft aus der Kurve.

AfD und das Rechtsfahrgebot: In der Fußgängerzone der Demokratie stellt sich die Frage: Wie viel Gegenverkehr durch die AfD müssen Bürgermeister zulassen? Zwei Juristen mahnen zur Rücksicht auch gegenüber politischen Verkehrsrowdys – solange deren Partei ein gültiges Nummernschild hat.

Kommen Sie in dieser feiertagsbedingten Vier-Tage-Woche gut in Fahrt!
Ihr Christian Wilhelm Link

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #106.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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