Protestanten rätseln, ob die Kirche wieder nach rechts außen abrutschen könnte
Von Niklas Kleinwächter
Sind evangelische Kirchgänger besonders anfällig für autoritäre, nationalistische und ausgrenzende Einstellungen? Arnd Henze, ARD-Hauptstadtkorrespondent, sorgt sich um die Zukunft der Kirche und um ihre Demokratiefähigkeit. Die Kirche müsse aufpassen, dass sie nicht wieder zum Resonanzraum für Rechtspopulismus werde. Angeblich ist sie davon aktuell gar nicht so weit entfernt: Einer Studie zufolge meinen schließlich mehr als 70 Prozent der regelmäßigen Kirchgänger, nur derjenige könne echter Deutscher sein, der auch deutsche Vorfahren hat.
Einen Grund für solche Tendenzen sieht Henze schon in der Geburtsstunde der Bundesrepublik vor 70 Jahren. In der Nachkriegszeit habe die Kirchenleitung Kampagnen gegen die Entnazifizierung vorangetrieben, zum Beispiel indem sie Pastoren verboten hat, in Spruchkammern mitzuwirken. Es sei eine „Polemik von den Kanzeln“ betrieben worden, durch die Opfer ausgegrenzt und die Demokratie schlechtgemacht worden sei. Henze kommt sogar zu der These: „Das war die erste rechtspopulistische Bewegung in Nachkriegsdeutschland.“ Mit Otto Dibelius als Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) habe die Kirche einen „Fehlstart in die Demokratie“ hingelegt. Dieser habe der Monarchie nachgehangen: Familie, Volk und Kirche seien in seinen Augen etwas Gutes, ja Göttliches gewesen.
Dem demokratischen Staat habe in Dibelius‘ Augen aber all dies gefehlt, das „positiv Metaphysische, Heilige“. Denn die demokratische Regierung sei ja nicht, wie noch Könige und Kaiser, von Gottes Gnade auserkoren. Henze sieht in dieser Vergangenheit ein großes Problem für die heutige Kirche, die sich auch im „Stresstest für die Demokratie“ befinde. So warnt er, Dibelius und andere Kirchenvorderen könnten heute wieder zu Vorbildern für Rechtspopulisten werden. Deshalb hat der Journalist und studierte Theologe eine Streitschrift verfasst. Zum Jubiläum des Grundgesetzes möchte er nun, dass alle gesellschaftlichen Akteure, Gewerkschaften, Parteien und eben die Kirchen, sich ihre Haarrisse und Brüche bewusst machen.
Meister weiß um die Schwächen seiner Kirche
„Kann Kirche Demokratie?“, fragt Henze auf dem Titel seines neuen Buches. Eigentlich hätte Landesbischof Ralf Meister mit einem entschiedenen Ja auf diese provokante Frage antworten müssen, als die druckfrische Publikation am Donnerstag in der Marktkirche von der Hanns-Lilje-Stiftung vorgestellt wurde. Schließlich gibt sich ja seine Landeskirche Hannovers am kommenden Donnerstag aller Voraussicht nach eine neue Kirchenverfassung. Darin bekennt sie sich nun ausdrücklich zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und zur Ordnung des Grundgesetzes. Sie erteilt „jeder Form der Judenfeindlichkeit“ eine klare Absage. Und zahlreiche Beteiligungselemente sollen die innerkirchliche Demokratie stärken. Aber Meisters Antwort auf Henzes Frage fällt nicht so eindeutig aus. Mit Blick auf Dibelius sagt Meister, die Kirche habe agiert wie fast alle in der Situation damals, und setzt sofort nach: „Aber das entschuldigt überhaupt nicht.“ Meister weiß zwar um die Schwächen seiner Kirche. Henzes Kritik findet er in der Vehemenz allerdings nicht ganz fair. Schließlich sei heute die Haltung der Kirche zum Staat und zur Demokratie ganz klar und eindeutig. Mit Gustav Heinemann habe es eine Versöhnung der Kirche mit Demokratie und Rechtsstaat gegeben, erkennt auch Henze an. Doch was in der Kirchenleitung passiert, ist das eine. Wie das Leben in den Kirchengemeinden aussieht, ist noch etwas ganz anderes. „Kirche wird nicht prioritär durch Bischöfe, sondern durch Gemeinden vor Ort geprägt“, weiß auch Bischof Meister. Die Frage sei also: „Wie tragen wir das in die Gemeinden?“
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Eine Chance dafür, wie die Kirche ihre Haltung wieder vor Ort platzieren kann, sieht der Journalist Henze ausgerechnet in den „Fridays for Future“-Demonstrationen, bei denen seit Monaten immer freitags tausende junge Menschen auf die Straße gehen, um für eine bessere Klimapolitik zu demonstrieren. Die Bewahrung der Schöpfung sei schließlich ein christliches Motiv, hier könnte die Kirche also eine Anschlussfähigkeit an die Realität der Menschen herstellen. Doch warum gelingt das offenbar nicht? Bischof Meister muss selbstkritisch feststellen, das Thema Nachhaltigkeit sei zwar seit Jahren auf seiner Agenda, er arbeitet sogar in dem zuständigen Gremium der EKD mit. Allerdings: „Wir verfassen dann schöne Denkschriften – aber wo kommen die an? Wer liest die denn und nimmt die ernst?“ Die Kirche habe also ein Kommunikationsproblem. Die Spitze setzt vielleicht auf Nachhaltigkeit, doch an den Ortsgemeinden geht das offenbar vorbei.
Wir verfassen schöne Denkschriften – aber wo kommen die an? Wer liest die denn und nimmt die ernst?
Henze appelliert deshalb an die Kirchengemeinden. Seiner Ansicht nach brauchen diese einen regelmäßigen Realitätscheck. Als im vorvergangenen Jahr beispielsweise Siemens die Schließung seines Werkes in Görlitz angekündigt hatte, habe sich dort die Kirche an die Seite der betroffenen Arbeiter und ihrer Familien gestellt. Da habe die Kirche „Mut zur Weltlichkeit“ bewiesen und „die Realität in den Horizont der Welt Gottes“ gestellt. Henze nennt das ein „religionsloses Christentum“, bei dem es in erster Linie darum gehe, bei den Menschen zu sein. Genauso sollte nun seiner Meinung nach auch die „Fridays for Future“-Bewegung in den Kirchengemeinden Widerhall finden. Die Gemeindehäuser müsse man zum „politischen Resonanzraum“ machen, in dem Demokratie erfahrbar würde. „Demokratie braucht Narrative des Gelingens, weil die Verächter täglich Narrative des Scheiterns formulieren können.“ Offenkundig erinnert sich Henze da gerne zurück an die 1980er-Jahre. Damals habe es noch eine gute Streitkultur gegeben, man habe die Debatten in die Kirchengemeinden getragen und sich dort „mühselig“ eine „Eindeutigkeit“ erarbeitet.
Warum aber eine Politisierung der Kirchen automatisch die Akzeptanz für die Demokratie stärken soll, ist damit noch nicht beantwortet.