7. Nov. 2022 · 
Bildung

„Berufsorientierung hat gravierende Mängel“: DGB fordert „Ankerfach“ und Lehrplanänderung

Foto: Industrieblick

Die Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen ist dringend reformbedürftig – zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle DGB-Ausbildungsreport für Niedersachsen. Nicht einmal 30 Prozent der Auszubildenden geben an, dass ihnen das schulische Angebot bei der Berufswahlentscheidung (sehr) geholfen hat. Knapp 26 Prozent bewerten dagegen das Angebot als wenig hilfreich. Und dass ihnen die Berufsorientierung im Unterricht überhaupt nichts genützt hat, meinen sogar rund 45 Prozent. Viele Jugendliche hätten deswegen Ausbildungen begonnen, die sie als „Notlösung“ oder „ungeplante Alternative“ bezeichnen, lautet eine Erkenntnis der Studie. „Mit Blick auf die große Bedeutung, die einer qualitativ hochwertigen Berufsorientierung eigentlich zukommen müsste, sind diese Befunde ernüchternd“, sagt DGB-Bezirksjugendsekretärin Ute Neumann. Angesichts der gravierenden Mängel fordert die Bildungsexpertin: „Es braucht ein Ankerfach im Unterricht, in welchem in regelmäßigen Abständen Berufsorientierung zum Thema gemacht wird.“

Quelle: DGB-Ausbildungsreport 2022

Die Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen müsse früher und systematischer geschehen – und vor allem verbindlich in die Lehrpläne mit aufgenommen werden. Dabei gehe es nicht darum, ein neues Unterrichtsfach einzuführen, sondern die Berufsorientierung ab der Klasse 5 in allen Schulformen im Lehrplan zu verankern. „Das muss auch nicht in jedem Jahr dasselbe Fach sein“, erläutert Neumann. So könnten die Schüler in der fünften Klasse zum Beispiel in Deutsch zunächst Aufsätze über berufliche Themen schreiben, bevor die Berufsorientierung dann später in den Fächern Politik-Wirtschaft oder Arbeit-Wirtschaft-Technik (AWT) aufgegriffen wird. Als Vorbild nennt Neumann hier Sachsen-Anhalt, wo es ein solches System zumindest für Haupt- und Realschulen schon gibt. Eine kontinuierliche Berufsorientierung im Gymnasium finde aber auch dort noch nicht statt.

Lücke im Koalitionsvertrag

Die DGB-Forderung geht weit über das hinaus, was SPD und Grüne im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Dort haben sich die beiden Parteien zwar auf eine Stärkung der Berufsorientierung an berufs- und allgemeinbildenden Schulen verständigt. Von nennenswerten Änderungen des Lehrplans ist aber keine Rede. Als bevorzugte Mittel werden im Koalitionsvertrag individuelle Berufswahlcoaches, Ausbildungslotsen oder Netzwerke zur beruflichen Orientierung genannt. Außerdem sollen die Schüler in der Sekundarstufe I eine „Berufsorientierungs-Auszeit“ bekommen und bis zur Klasse 10 werden längere und flexiblere Praktika versprochen.

Ob das reichen wird, um alle vom Ausbildungsreport aufgedeckten Probleme zu lösen, darf bezweifelt werden. Laut DGB-Studie fällt nämlich vor allem in der Sekundarstufe II die Berufsorientierung unter den Tisch. Unter den Abiturienten und Fachabiturienten geben fast 80 Prozent der Befragten an, dass ihnen die schulischen Angebote bei der Berufswahl wenig bis gar nicht geholfen haben. Die Studienautoren folgern daraus, dass eine „substanzielle Berufsorientierung“ in der gymnasialen Oberstufe offenbar nicht für nötig gehalten wird, weil die Absolventen ja ohnehin ein Studium anstreben würden. „Eine solche Einschätzung entspricht jedoch in keiner Weise der Realität“, stellen die DBG-Bildungsforscher klar. Sie verweisen darauf, dass bundesweit fast jeder dritte Azubi eine Ausbildung beginnt, obwohl er über eine Studienberichtigung verfügt.

Arbeitgeber pflichten bei

Auch die niedersächsischen Unternehmer stehen hinter der Forderung nach einer besseren Berufsorientierung im Unterricht. Im Landesausschusses für Berufsbildung zur Zukunft der Beruflichen Bildung (LABB) haben sich die Tarifpartner schon im Frühjahr auf folgende Formulierung geeinigt: „Schulische Berufs- und Lebensweltorientierung sowie ökonomische Bildung müssen als zukünftig fester Bestandteil des Regelunterrichts an ein einordnendes und koordinierendes Ankerfach gebunden und kurzfristig in die Lehreraus- und -fortbildung integriert werden.“ Bisher stieß diese Idee jedoch auf taube Ohren. Dabei hatte auch die Stiftung Niedersachsenmetall kürzlich betont, dass die Schüler in Niedersachsen deutlich besser auf die Arbeitswelt vorbereitet werden müssen. Basis dafür war eine Ausbildungsumfrage in niedersächsischen Unternehmen, wonach die duale Ausbildung immer mehr dem Akademisierungstrend zum Opfer fällt. „An allen Schulformen muss daher verstärkt für die Ausbildung geworben und deutlich gemacht werden, dass eine Ausbildung mindestens genauso viele Vorzüge hat wie ein akademischer Abschluss“, lautete deswegen die Kernforderung von Stiftungs-Geschäftsführer Olaf Brandes.

Quelle: DGB-Ausbildungsreport 2022

Report bestärkt Forderung

Bei der Wahl ihres Ausbildungsplatzes entscheiden sich Niedersachsens Auszubildende übrigens nicht etwa für Geld, Status oder eine möglichst gute Vereinbarkeit von Job und Privatleben. 70,1 Prozent von ihnen geben an, dass bei ihnen das Interesse am Beruf ausschlaggebend für Wahl des Ausbildungsberufs war. Erst weit dahinter folgen die örtliche Nähe zum Wohnort (35,8 Prozent), das gute Arbeitsklima (35,7 Prozent) und die Aufstiegsmöglichkeiten nach der Ausbildung (30,3 Prozent) als Gründe für ihre Entscheidung an. Dabei kommt ein soziales Problem zum Tragen: Je schlechter der Schulabschluss, umso schwieriger wird es, den Ausbildungsberuf zu erhalten, der den eigenen Interessen entspricht. „Erschwerend kommt hinzu, dass viele dieser jungen Menschen nicht auf die nötige Unterstützung durch ihr Elternhaus zurückgreifen können, weder in finanzieller Hinsicht noch mit Blick auf berufliche oder gesellschaftliche Kontakte, die einen Berufseinstieg erleichtern könnten“, heißt es im Ausbildungsreport. Vor diesem Hintergrund sei es von zentraler Bedeutung, die Zugänge zu den unterschiedlichen Berufsfeldern möglichst frühzeitig zu eröffnen.

Quelle: DGB-Ausbildungsreport 2022

Die DGB-Bildungsexperten sehen es als erwiesen an, dass eine gute schulische Berufsorientierung die Wahrscheinlichkeit erhöht, in Kontakt mit einem Ausbildungsbetrieb zu kommen und von diesem übernommen zu werden. Eine weitere Erkenntnis der Studie: Die geringsten Chancen, noch während ihrer Schulzeit einen Ausbildungsplatz zu finden, haben studienberechtigte Auszubildende. Zudem bestätigt der Ausbildungsreport die von der rot-grünen Landesregierung angestrebte Aufwertung von Praktika. 31 Prozent der Auszubildenden haben ihren Ausbildungsbetrieb auch deswegen ausgewählt, weil sie schon während der Schulzeit dort gute Erfahrungen gemacht haben.

Dieser Artikel erschien am 8.11.2022 in Ausgabe #197.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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